Nachdem alle nicht-weißen, südafrikanischen Männer bereits 1923 dazu verpflichtet worden waren, in urbanen Gegenden ein spezielles Ausweisdokument mit sich zu führen, welches ihnen den zeitlich begrenzten Aufenthalt dort erlaubte (Natives Act), trat eine ähnliche Regelung 1952 auch für Frauen und Kinder in Kraft. Vier Jahre später reichte es den Frauen allerdings und rund 20.000 von ihnen marschierten, unabhängig von der jeweiligen Hautfarbe und stets in Zweier- oder Dreiergruppen (Märsche mit größeren Personengruppen waren zuvor verboten worden) in Richtung der Union Buildings in Pretoria, um beim dortigen Premierminister eine Petition gegen den sog. Dompas (Afrikaans: ‚dummer Pass‘) einzureichen. Zwar sollte es noch ganze drei Jahrzehnte dauern bis eine südafrikanische Regierung sich tatsächlich dazu durchringen konnte, auf die Forderungen der Frauen einzugehen, dennoch markiert der Women’s March vom 9. August 1956 rückblickend eine wichtige Etappe auf dem Weg hin zur Überwindung der Apartheid in Südafrika. Folglich gilt im modernen Südafrika der gesamte Monat August als Women’s Month.
Was in der Außenperspektive betrachtet wie ein Gedenken an eine historische Begebenheit primär nationaler Tragweite wirken mag, hat eigentlich wesentlich größere Dimensionen. So handelte es sich bei der federführenden Organisation hinter dem Women’s March um die Federation of South African Women (FEDSAW), welche mit dieser speziellen Aktion zwar vor allem die Marginalisierung von Frauen durch Rassentrennung anprangerte, gemäß ihrer Charta von 1954 jedoch eine noch viel weitreichendere Emanzipation forderte, nämlich in Bezug auf Wahl-, Wohn-, Arbeits- und Familienrecht, Bezahlung, Kinderbetreuung und Bildung. Nüchtern betrachtet existiert die bereits damals geforderte Chancengleichheit auch im heutigen Südafrika – sowie darüber hinaus – in vielen Bereichen allenfalls auf dem Papier. Es überrascht daher nicht, dass der Women’s Month jedes Jahr aufs Neue aufgegriffen wird, um die oben genannten Missstände zu thematisieren, und zwar sowohl von der Politik als auch von den Medien und nicht zuletzt auch von Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften.
Was hingegen überrascht, ist die Art und Weise, in der diese Thematisierung bisweilen stattfindet. Exemplarisch möchte ich hier von meiner Autofahrt am vergangenen Sonntag nach Ga-Rankuwa sowie meinem dortigen Gottesdienstbesuch berichten. Autofahrt und Gottesdienst hängen deshalb zusammen, weil sowohl unterwegs im Radio als auch später in der Predigt anlässlich des Women’s Month über denselben Bibeltext gesprochen wurde, nämlich Sprüche 31,10-31 – in der Luchterübersetzung von 2017 überschrieben mit dem Titel ‚Lob der tüchtigen Frau‘.
Bereits im Radio, und zwar auf dem größten öffentlich-rechtlichen Sender, als auch in der späteren Predigt wurde der besagte Bibelabschnitt u.a. als ein Kriterienkatalog dargestellt, der Männern auf der Suche nach einer Partnerin dienen könne. Dass dies jedoch gerade nicht der Fall ist, wird beim Lesen des Textes schnell ersichtlich. Selbiger beschreibt nämlich eine Frau, die nicht nur bereits Kinder hat (Spr 31,28) – was bei alleinstehenden Frauen in Südafrika keine Seltenheit wäre, auch wenn sie für diesen Umstand meist nicht die Hauptverantwortung tragen – sondern auch schon verheiratet ist (Spr 31,11). Zugegebenermaßen war Polygamie im Alten Orient, dem Entstehungskontext von Spr 31 also, durchaus nicht unbekannt. Allerdings nahm diese stets eine patriarchale, oder präziser eine androkratische, Form an. D.h. es konnte zwar vorkommen, dass ein Mann mehrere Frauen hatte, nicht jedoch, dass eine Frau mehrere Männer hatte. Die überwiegende Mehrheit der im besagten Abschnitt erwähnten Eigenschaften der dort beschriebenen Frau lassen sich aber ausschließlich innerhalb des Kontexts von Ehe und Familie beobachten bzw. überprüfen. Somit kann festgehalten werden, dass die Intention von Spr 31,10-31 mit Sicherheit nicht ist, unverheirateten Männern bei der Brautschau behilflich zu sein.
Allerdings richteten sich weder der Radiobeitrag noch die Predigt direkt an Männern, sondern primär an Frauen. Auch hierbei hätte den Pastor:innen aber auffallen müssen, dass Spr 31,10-31 sich als Predigttext für die hiesige Hauptzielgruppe wenig eignet. Schließlich beschreibt der Text eine offenkundig wohlhabende Geschäftsfrau, die purpurne Kleider trägt (Spr 31,22), nicht nur eine, sondern gleich mehrere Mägde (wörtl. ‚Sklavinnen‘) hat (Spr 31,15) und soz. als Charity Lady Menschen in Armut unterstützt (Spr 31,20). Die Realität von Frauen in Townships ist eine andere. Diese sind meist selbst arm. Daran ändert leider auch der im Sprüchebuch so viel besungene Fleiß (Spr 6,6; 12,24; 13,4; usw.), über den die meisten reichlich verfügen, nichts. Es fehlt schlicht und ergreifend an Jobs. Laut offiziellen Zahlen betrug die Arbeitslosigkeitsrate im zweiten Quartal 2023 in Südafrika 32,6%, wobei sie bei über 24-Jährigen sogar bei über 60% liegt (STATS SA 2023:1.25).
Dass jedoch auch berufstätigen Frauen aus Townships meist nicht der Sprung in die Mittelschicht gelingt, liegt u.a. an einem Phänomen, das als Black Tax bekannt ist. Gemeint ist hiermit die moralische Verpflichtung, mit dem eigenen Einkommen die Herkunftsfamilie (häufig inkl. Verwandtschaft) mitzuversorgen. Ein ähnlicher Mechanismus ist zwar theoretisch auch bei Weißen Südafrikaner:innen denkbar, allerdings besteht bei diesen hierzu i.d.R. keine Notwendigkeit. Weiße hatten schließlich bereits das ganze 20. Jahrhundert über die Möglichkeit, Wohlstand zu erwirtschaften und weiter zu vererben, was sog. Farbigen, Inder:innen und vor allem Schwarzen aufgrund der Apartheid weitgehend versagt war.
Es kann also festgehalten werden, dass Spr 31,10-31 definitiv nicht von einer Frau spricht, wie man sie typischerweise in einem südafrikanischen Township findet. Die Frage ist jedoch, ob der Text nicht dennoch zu einer solchen Frau sprechen kann. Genau das wäre ja letztlich der Anspruch der christlichen Verkündigung. Sowohl in Medienbeiträgen als auch in Gottesdiensten – übrigens nicht nur in Südafrika – fällt jedoch immer wieder auf, dass im Lichte von Spr 31,10-31 über Frauen meist im Sinne von Müttern und vor allem Hausfrauen gesprochen wird. Das ist angesichts Textes keineswegs grundsätzlich falsch. Allerdings weist Irmtraud Fischer (2013:157-158) darauf hin, wie sehr sich der Begriff der Hausfrau – insbesondere innerhalb der letzten beiden Jahrhunderte – gewandelt hat. Während etwa bei Luther mit ‚Hausfrau‘ noch der weibliche Vorstand eines Haushaltes gemeint war, der stellvertretend für alle hierzu Gehörenden Entscheidungen treffen konnte, Verantwortung übernahm und somit das Haus bzw. den Haushalt führte, wird im modernen Sprachgebrauch der Begriff zunehmend mit einem weitgehend unselbstständigen Heimchen am Herd gleichgesetzt, oder in den Worten Fischers mit einer ‚unbezahlten Reproduktionsarbeitskraft‘. Auch dies jedoch entspricht in keiner Weise dem Bild einer Frau, wie es in Spr 31,10-31 gezeichnet wird.
Die offenkundige Vorannahme vieler Leser:innen dieses Textes – anscheinend auch die der Pastor:innen im besagten Radiobeitrag sowie im Gottesdienst in Ga-Rankuwa – nämlich dass es sich bei der Frau aus Spr 31,10-31 nicht nur um eine tugendhafte Haushaltsvorsteherin aus der antiken, vorderorientalischen Oberschicht handelt, sondern um das Idealbild der Frau an sich, ist also aufgrund der bereits genannten Fakten kaum haltbar. Hinzu kommt noch eine Beobachtung im hebräischen Urtext: Kasper Siegismund (2019) weist darauf hin, dass in allen gängigen Bibelübersetzungen die in Spr 31,10-31 verwendeten Verben im Präsens stehen, während das Hebräische im Wesentlichen Vergangenheitsformen verwendet. Zwar bestehe die grundsätzliche Möglichkeit, auch eindeutige Vergangenheitsformen innerhalb poetischer Texte als gnomisch zu interpretieren und somit präsentisch zu übersetzen, allerdings spräche im vorliegenden Text die konkret verwendete Vergangenheitsform (Qatal) eher dagegen und es läge auch sonst kein zwingender Grund hierfür vor. Stattdessen legt Siegismund eine Übersetzung vor, welche die Handlungen der beschriebenen Frau, dem Urtext entsprechend, in der Vergangenheit belässt. Die Ursache hierfür könnte darin liegen, dass der Text nicht etwa von einer fiktiven, sondern einer historischen Person handelt, und zwar mutmaßlich einer zum Abfassungszeitpunkt bereits verstorbenen Frau. Diese Lesart bekräftigt noch einmal die Tatsache, dass die Intention von Spr 31,10-31 nicht sein kann, dass sämtliche Frauen dieses Planeten der hierin enthaltenen Beschreiben entsprechen sollen oder müssen – auch wenn die hier beschriebene Frau zweifelsohne zahlreiche vorbildliche Charaktereigenschaften aufweist.
Noch einen Schritt weiter gehen in ihrer Auslegung des Textes z.B. JiSeong Kwon (2012) und Glenn Pemberton (2018). Für sie steht nämlich weitgehend außer Frage, dass es sich bei der Frau aus Spr 31,10-31 um gar keine real existierende Frau handelt. Stattdessen sehen sie in ihr die poetisch inkarnierte Quintessenz dessen, was Weisheit bedeutet. Die Gründe hierfür sind einerseits im Textabschnitt selbst zu finden und andererseits in dessen Kontext. Der Textabschnitt selbst ist deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit metaphorisch zu verstehen, weil die hier beschriebene Frau derartig vollkommen, ja geradezu übermenschlich perfekt ist, dass es sich bei ihren zahlreichen und ausschließlich positiven Charaktereigenschaften offensichtlich um eine poetische Überhöhung des Menschenmöglichen handelt. Und der literarische Kontext spricht deshalb gegen eine Interpretation im Literalsinn, weil sich einerseits das gesamte Sprüchebuch explizit und exklusiv an junge, aristokratische Männer richtet und es zumindest seltsam wäre, wenn es plötzlich mit einem primär an Frauen gerichteten Tugendkatalog enden würde. Zum anderen spricht der Kontext auch deshalb gegen ein wortwörtliches Verständnis, weil sowohl in diesem letzten Kapitel, vor allem aber bereits in vier zentralen Texten zuvor (Spr 1,20-32; 3,13-20; 8; 9,1-6) Weisheit mit einer Frau verglichen bzw. als Frau dargestellt und detailliert beschrieben wird. Es spricht also vieles dafür, dass ebendiese ‚Frau Weisheit‘ (Spr 8) im akrostichisch-alphabetischen Abschlussgedicht des Buches noch ein letztes Mal als Ziel- sowie Höhepunkt in Erscheinung tritt.
Freilich ist niemand verpflichtet, den oben aufgeführten Auslegungsansätzen in jedem Punkt zu folgen. Predigende, die auch ernst genommen werden wollen, sind allerdings dringend dazu aufgerufen, sich mit diesen hermeneutischen, also das grundsätzliche Textverständnis betreffenden, Vorüberlegungen zumindest auseinanderzusetzen und diese auch transparent zu machen. Im erwähnten Radiobeitrag sowie der Predigt in Ga-Rankuwa vom vergangenen Sonntag ist dies nicht geschehen. Und dabei handelt es sich nicht um Einzelfälle, sondern leider eher um den Regelfall. Das ist aus zwei Gründen tragisch. Einerseits werden Frauen hierdurch in ein Rollenbild gezwängt, dem sie ohnehin niemals gerecht werden können und das sie darauf reduziert, Männern hörig zu sein und zu dienen. Andererseits machen sich die Predigenden bzw. macht sich letztlich die gesamte Gemeinde Jesu hierdurch zum Advokaten eines patriarchalen Systems, welches sich biblisch-theologisch gar nicht rechtfertigen lässt. Die Bibel sollte Korrektiv für Ethik, Glaube und Verkündigung sein und darf nicht als Blankoscheck für vorgefertigte Meinungen missbraucht werden. Dort nämlich, wo biblische Texte zur Legitimation von Sexismus, Misogynie, struktureller Benachteiligung von Frauen oder gar geschlechtsbezogener Gewalt herangezogen werden, geschieht das genaue Gegenteil dessen, was die Texte bewirken wollen. Der Women’s Month sollte also nicht dazu dienen, Frauen in Südafrika und der Welt daran zu erinnern, welche Rolle bzw. Nebenrolle ihnen die patriarchale Gesellschaft zugedacht hat. Vielmehr sollte der Women’s Month die Gesellschaft daran erinnern bzw. sie überhaupt erst wach rütteln und darauf aufmerksam machen, welch untergeordnete Rolle Frauen in vielen Bereichen spielen und was sich ändern muss, damit Frauen die Rolle bzw. Rollen einnehmen können, die ihnen auch tatsächlich zustehen. Vor diesem Hintergrund sollte und muss auch Spr 31,10-31 neu gelesen und gepredigt werden.
Quellen
Fischer, Irmtraud (2013). Von der Vorgeschichte zur Nachgeschichte: Schriftauslegung in der Schrift – Intertextualität – Rezeption. Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 125(1): 143-160.
Kwon, JiSeong (2012). Wisdom Incarnate?: Identity and Role of אשׁת־חיל (“the Valiant Woman”) in Proverbs 31:10-31. Journal for the Evangelical Study of the Old Testament 1(2): 167-188.
Pemberton, Glenn (2018). Daughter Divine: Proverbs’ Woman of Wisdom. Priscilla Papers 32(2): 14-20.
Siegismund, Kasper (2019). The Death of a Virtuous Woman? Proverbs 31.10-31, Gnomic Qatal, and the Role of Translation in the Analysis of the Hebrew Verbal System. Journal for the Study of the Old Testament 43(3): 284-300.
STATS SA (2023). Quarterly Labour Force Survey. 15. August. [Online] https://www.statssa.gov.za/publications/P0211/P02112ndQuarter2023.pdf (2023-08-21).