Seit dem Ende des unmenschlichen Apartheid-Systems in Südafrika Anfang der 1990er Jahre hat sich das Land stark verändert. Eine der vielleicht überraschendsten Veränderungen ist die Renaissance einiger bis dahin weitgehend in Vergessenheit geratener Bräuche. Als ein typisches Beispiel hierfür kann das vor allem unter den amaZulu praktizierte ukuhlolwa kwezintombi gelten. Hierbei handelt es sich um einen – mehr oder weniger – rituellen Jungfräulichkeitstest, der bei unverheirateten Frauen und Mädchen, teilweise bereits ab einem alter von etwa acht Jahren, durchgeführt wird.[i] Da die Ehre einer Familie, eines Clans oder Stammes traditionell betrachtet als von der sexuellen Reinheit ihrer bzw. seiner Töchter abhängig gilt, war ukuhlolwa kwezintombi von jeher ein wichtiges Instrument der kollektiven Ehrerhaltung. Darüber hinaus wird ukuhlolwa kwezintombi heutzutage vor allem als eine HIV-Präventionsmaßnahme betrachtet.[ii]

Auf besondere Weise praktiziert wird der Jungfräulichkeitstest im Rahmen einer jährlich im September stattfindenden Veranstaltung namens Umkhosi woMhlanga. Eingeladen sind hierzu alle noch unverheirateten Frauen, die ethnisch und kulturell den amaZulu angehören. Die genannten Gäste reisen jeweils in das in der Provinz KwaZulu-Natal gelegene Nongoma Enyoneki, der Residenz des Königshauses der amaZulu, wo die alljährlichen Feierlichkeiten in einer opulenten Prozession gipfeln, an welcher neben der amtierenden Prinzessin bis zu 30.000 junge Frauen, die allesamt singend und tanzend lange Schilfrohre in Richtung des Königspalasts befördern.[iii] Während der gesamten Veranstaltung tragen die teilnehmenden Frauen und Mädchen traditionelle Kleidung und vor allem Schmuck aus bunten Perlen, deren Farben und Muster – für Eingeweihte – Auskunft über Stammeszugehörigkeit, Familienverhältnisse sowie Beziehungsstatus (verlobt oder nicht) geben.[iv]

Gerade die traditionelle Kleidung war jedoch in der Vergangenheit wiederholt Gegenstand von Kontroversen, da Brüste und teilweise auch Pobacken hier üblicherweise nicht bedeckt sind. Einerseits führte dies dazu, dass Bilder der Teilnehmerinnen auf pornografischen Websites erschienen[v] und andererseits wurden dokumentarische Aufnahmen der Veranstaltung auf Google bzw. YouTube wegen vermeintlich pornografischer Darstellungen gesperrt.[vi] Gegen die mutmaßlich eurozentrische Sexualisierung von Umkhosi woMhlanga einerseits und die daraus resultierende Tabuisierung andererseits reche sich jedoch erfolgreicher Widerstand seitens der amaZulu, sodass die Veranstaltung inzwischen wieder zu dokumentarischen Zwecken festgehalten und die Aufnahmen auch im Internet veröffentlicht werden können.

Quelle: Retlaw Snellac, South africa – zulu reed dance ceremony (6563648943).jpg, Wikimedia Commons.

Die beiden wichtigsten Teilnahmevoraussetzungen für Umkhosi woMhlanga sind indes unverändert, nämlich zum einen das weibliche Geschlecht und zum anderen die Jungfräulichkeit. Letztere muss deshalb vor der oben genannten Prozession im Rahmen von ukuhlolwa kwezintombi festgestellt werden. Die Methoden sind hierbei ebenso unterschiedlich wie die individuellen Erfahrungen derjenigen Frauen bzw. Mädchen, deren Jungfräulichkeit überprüft werden soll. Mal wird schlicht mit dem Finger ertastet, ob das Hymen noch intakt ist, mal wird hierzu in einem etwas aufwendigeren Verfahren Wasser verwendet.[vii] Fast immer wird der Jungfräulichkeitstest jedoch von einer der zu Untersuchenden fremden Person durchgeführt und häufig auch ohne vorherige Erläuterung über Sinn, Zweck und/oder Vorgehensweise der Untersuchung, was ukuhlolwa kwezintombi für einige Frauen und vor allem Mädchen zu einem traumatischen Erlebnis macht. Mithilfe des 2006 verabschiedeten Children’s Act[viii] hat man seitens des Gesetzgebers zwar versucht, die Jungfräulichkeitstests bei Mädchen unter 16 Jahren zu erschweren, allerdings ist das Gesetz äußerst schwammig formuliert und zudem ist es kaum möglich, seine Durchsetzung zu kontrollieren. Darüber hinaus ist praktisch keine der traditionellen Methoden zur Überprüfung der Jungfräulichkeit aus medizinischer Sicht wirklich aussagekräftig.[ix] Es besteht daher eine nicht zu unterschätzende Gefahr der sozialen Marginalisierung von Frauen und Mädchen aufgrund eines falschen Befundes.

Ach wenn es sich bei ukuhlolwa kwezintombi nicht um einen Gewaltakt per se handelt, so ist die Prozedur dennoch mit dem Problem geschlechtsbezogener Gewalt eng verbunden, und zwar insofern als nur Frauen und Mädchen sich dieser häufig als ausgesprochen unangenehm empfundenen Untersuchung zu unterziehen haben, Männer und Jungen hingegen nicht. Zwar wird bisweilen darauf hingewiesen, dass auch männliche Kinder und Jugendliche im Rahmen ihrer mal mehr und mal weniger traditionell durchgeführten Beschneidung ein ähnlich prägendes sowie oftmals angstbesetztes Erlebnis durchlaufen,[x] allerdings sind hierbei zwei Dinge zu beachten: zum einen ist die männliche Beschneidung unter den amaZulu heutzutage weit weniger verbreitet als etwa unter den amaXhosa oder vielen anderen Ethnien im südlichen Afrika und zum anderen gibt die Penisvorhaut keinerlei Aufschluss über die sexuelle Aktivität des zu Beschneidenden, weswegen die Zirkumzision bei Jungen und Männern völlig ohne Überprüfung deren geschlechtlicher Enthaltsamkeit durchgeführt wird. Dies mündet letztlich in ein grobes gesellschaftliches Ungleichgewicht: während Mädchen und Frauen aufgrund ihrer vermeintlich oder auch tatsächlich nicht mehr vorhandenen Jungfräulichkeit marginalisiert und diskriminiert werden, sind voreheliche sexuelle Aktivitäten bei Jungen und Männern offenkundig legitim.

Nun mag man meinen, dass in Europa, dem christlich geprägten Abendland, mehr Gleichheit unter den Geschlechtern herrscht, da die allermeisten Konfessionen außer- und damit auch voreheliche sexuelle Beziehungen gleichermaßen und grundsätzlich verurteilen, unabhängig vom Geschlecht. Aus dieser Tatsache, wiederum, ergibt sich jedoch eine weitgehende Tabuisierung der Sexualität überhaupt, die in der Fortpflanzung die wesentlichen, wenn nicht sogar einzige Legitimation für den Geschlechtsakt sieht.[xi] Da jedoch der weibliche Orgasmus zum Zwecke der Fortpflanzung gar nicht erforderlich ist, wird im Zuge dessen zu weiten Teilen die weibliche Sexualität als solche tabuisiert. Thematisiert wird sie innerhalb der christlichen Theologie meist lediglich im negativen Sinne, nämlich wenn es darum geht, sie zu verhindern, was vor oder außerhalb der Ehe der Fall ist. Innerhalb der Ehe ist hingegen jede Frau weitgehend sich selbst überlassen oder aber ihrem Gatten ausgeliefert.

Ganz anders verhält sich dies in der jüdischen Theologie. Basierend auf Ex 21,10, wo der Sexualakt neben der Versorgung mit Nahrung und Kleidung als eheliche Pflicht des Mannes genannt wird, leitet die rabbinische Literatur ab, dass der Beischlaf regelmäßig, d.h. i.d.R. mindestens ein Mal wöchentlich bzw. alle zwei Wochen vollzogen werden soll.[xii] Dass der Geschlechtsverkehr hierbei also unmöglich in jedem einzelnen Fall der Fortpflanzung dienen kann, liegt auf der Hand. Dies wird noch dadurch unterstrichen, dass der Talmud sich auch der Diskussion unterschiedlicher Sexualpraktiken bis hin zum Oralverkehr, insbesondere dem Cunnilingus, widmet.[xiii] Während innerhalb der Diskussion zwar unterschiedliche Sichtweisen vorgestellt werden, ergibt sich als Skopus der Auseinandersetzung doch eine eindeutig positive Haltung gegenüber der oralen Stimulation der primären weiblichen Geschlechtsmerkmale.

Diese positive Grundhaltung drückt sich auch im hebräischen terminus technicus aus, mit welchem der Cunnilingus bezeichnet wird. Der entsprechende Begriff hierfür lautet נשיקת אותו מקום (nəšiqat ôtô māqôm), was übersetzt so viel wie „Küssen jenes Ortes“ bedeutet. Theologisch signifikant ist diese Bezeichnung insofern als מקום (māqôm), zu Deutsch „Ort“, im rabbinischen Hebräisch als eine Chiffre für Gott selbst fungiert. Diese Verwendung des Begriffes ergibt sich vor allem aus Ex 33,21, wo Gott sich laut eigener Aussage mit einem bestimmten Ort – nach manchen Übersetzungen auch „Platz“ oder „Raum“ – identifiziert. Die rabbinische Interpretation erkennt in diesem „Ort“ vor allem eine Metapher für Gottes Allgegenwart,[xiv] als deren physisches Abbild die Stiftshütte bzw. der jüdische Tempel gelten.[xv] Es ist vor diesem Hintergrund durchaus auffällig, dass es eine Reihe von Parallelen zwischen der Architektur des israelitischen Heiligtums einerseits und der Anatomie des weiblichen Genitalbereichs andererseits gibt. Dazu gehören z.B. die längliche Grundausrichtung, der weitgehend symmetrische Aufbau, die Strukturierung mittels unterschiedlicher Vorhöfe oder auch die Aufteilung in äußere sowie innere Bereiche. Gut vorstellbar, dass es sich hierbei nicht bloß um Zufälle handelt. Jedenfalls lässt sich feststellen, dass die rabbinische Theologie die Vulva literarisch zu würdigen sucht und in der Beschreibung von deren oraler Stimulation zumindest sprachlich einen Bezug zum Sakralen herstellt.

Trotz der grundsätzlich positiven Haltung gegenüber weiblicher Sexualität und Lust bleibt jedoch auch die jüdische Theologie in ihrer Bewertung und vor allem Beschreibung all dessen bisweilen vage. Hierin zeigt sich möglicherweise ein generelles Manko des rabbinischen Judentums, nämlich die Tatsache, dass sämtliche der im Talmud diskutierten Lehrmeinungen ausschließlich von Männern stammen. Frauen kommen praktisch nicht zu Wort. Gerade beim Thema Sexualität ist das jedoch in einigen der im südlichen Afrika heimischen Kulturen anders. Es ist daher ungemein wichtig, bei der Beurteilung überlieferter Gepflogenheit zwischen unterschiedlichen Traditionen zu differenzieren. Bei weitem nicht in allen Kulturen im Süden Afrikas gibt es dieselben Bräuche mit potentiell sexistischen Tendenzen wie sie eingangs am Beispiel von ukuhlolwa kwezintombi illustriert wurden. Und bei weitem nicht alle Kulturen sind weiblicher Sexualität gegenüber negativ eingestellt.

Ein Beispiel für eine positive Grundhaltung gegenüber weiblicher Sexualität sind etwa die vor allem in Simbabwe heimischen BaKalanga. Bereits im Alter von etwa elf Jahren wird Mädchen innerhalb dieser Volksgruppe von älteren, weiblichen Familienmitgliedern ihr Genitalbereich und dessen Funktion genau erläutert. Dies setzt ein präzises Vokabular voraus, welches in vielen anderen Sprachen gar nicht vorhanden ist. So wird bspw. mit dem Wort malebe die Klitoris bezeichnet, während hingegen etwa im Englischen gar kein eigenständiges Wort hierfür existiert, sodass auf ein Lehnwort aus dem Griechischen zurückgegriffen werden muss. Und selbst im Deutschen findet der autochthone Begriff „Kitzler“ allenfalls noch umgangssprachlich Verwendung. In TjiKalanga hingegen, der Sprache des Volkes der BaKalanga, ist der Begriff schon allein deshalb wichtig, weil Mädchen von ihren Müttern, Großmüttern oder anderen weiblichen Verwandten dazu angehalten werden, regelmäßig, i.d.R. täglich, die eigene Klitoris manuell zu dehnen, wovon man sich eine Reduktion der Schmerzen während des Geburtsprozesses einerseits sowie eine Vergrößerung der sexuellen Stimulationsfläche andererseits verspricht.

Trotz dieser erkennbar positiven Einstellung zur weiblichen Sexualität zeigen sich auch hier sexistische Züge, wenn auch auf einer anderen Ebene. So gibt es bspw. bislang keinerlei Literatur und somit auch keinerlei medizinische Studien zur eben erwähnten Praxis, da diese sowie deren Sinn und Zweck als weibliches Geheimwissen gelten, das normalerweise nicht an Fremde und schon gar nicht an Männer weitergegeben werden darf. Mir selbst wurde daher im persönlichen Gespräch versichert, dass ich als nun Eingeweihter unter keinen Umständen jemals sexuelle Kontakte zu einer den BaKalanga angehörigen Frau unterhalten dürfe, da ich andernfalls einen nicht näher benannten Fluch auf sie und mich laden würde. Die spirituell begründete Tabuisierung des Themas verhindert hier also eine gesunde Kommunikation zwischen Ehe- und Sexualpartner:innen. Das ist ausgesprochen bedauerlich, denn wie sich gezeigt hat, ist strukturelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen häufig ein Produkt von Tabuisierung und damit eines Mangels an Kommunikation. Eine notwendige, gesellschaftliche Herausforderung besteht deshalb darin, einen natürlicheren Umgang mit Sexualität, insbesondere weiblicher Sexualität, zu erlernen.


[i] Vincent, Louise. 2006. Virginity Testing in South Africa: Re-Traditioning the Postcolony. Culture, Health & Sexuality 8(1): 17-30.

[ii] McNeill, Fraser G. 2011. AIDS, Politics, and Music in South Africa. Cambridge: Cambridge University Press. S. 27.

[iii] Mchunu, Fikile Ruth. 2020. Perceptions of Caregivers about Children’s Participation in the Umkhosi woMhlanga (Reed Dance) in the Nongoma District. Masterthesis, University of KwaZulu-Natal.

[iv] Schoeman, Stan. 1983. Eloquent Beads: The Semantics of a Zulu Art Form. Africa Insight 13(2): 147-152.

[v] Memela, Mhlaba. 2007. Goodwill Says Virginity Testing Here to Stay. 10. September. Sowetan Live. Verfügbar unter: https://www.sowetanlive.co.za/news/2007-09-10-goodwill-says-virginity-testing-here-to-stay/

[vi] Allison, Simon. 2017. ‚Hey Google, Our Breasts Aren’t Sexual’. 12. Oktober. TV Yabantu. Verfügbar online: https://www.yabantu.tv/hey-google-our-breasts-arent-sexual/

[vii] Hadithi Africa. 2019. Ukuhlolwa Kwezintombi: Virginity Testing amongst the Zulu Tribe of South Africa. 8. Juli. Hadithi Africa. Verfügbar online: https://hadithi.africa/ukuhlolwa-kwezintombi-virginity-testing-amongst-the-zulu-tribe-of-south-africa/

[viii] Republik Südafrika. 2006. No. 38 of 2005: Children’s Act, 2005 [online]. 19. Juni. Verfügbar unter: https://www.gov.za/sites/default/files/gcis_document/201409/a38-053.pdf

[ix] Olson, Rose McKeon & García-Moreno, Claudia. 2017. Virgnity Testing: A Systematic Review. Reproductive Health 14(1): 1-10.

[x] Vincent, Louise. 2006. Virginity Testing in South Africa: Re-Traditioning the Postcolony. Culture, Health & Sexuality 8(1): 17-30.

[xi] Katechismus der Katholischen Kirche 2.2.3.7 V: 1652-1654. Verfügbar unter: https://www.vatican.va/archive/DEU0035/__P5B.HTM

[xii] Jerusalemer Talmud, Ketubbot 5,7

[xiii] Babylonischer Talmud, Nedarim 20b

[xiv] Maimonides. Mischnakommentar, Sanhedrin 10,3

[xv] Vgl. Dtn 12,5.21