Vergangene Woche feierten Menschen jüdischen Glaubens nicht nur in Südafrika, sondern in der gesamten Diaspora und natürlich besonders in Israel Purim, ein ausgelassenes Fest mit vielen bunten Verkleidungen, Süßigkeiten, Geschenken und dergleichen mehr. Die freudige Ausgelassenheit liegt begründet in einem überaus freudigen Ereignis, welches die historisch-religiöse Grundlage des Festes bildet, nämlich die Bewahrung des jüdischen Volkes während eines geplanten, antijüdischen Genozids zur Zeit des medo-persischen Imperiums, vmtl. etwa in den 480er Jahren v. Chr.

Im Zentrum des Festes steht die zweimalige Lesung der sog. megilla,[i] des biblischen Buches Esther, das die Abfolge der historischen Ereignisse in Form einer Novelle wiedergibt.[ii] Laut diesem dramaturgisch höchst kunstvoll gestalteten Bericht fiel die erste Frau des persischen Königs Achaschwerosch in Ungnade und wurde verstoßen, woraufhin eine neue Königin gesucht werden musste. Fündig wurde man bei einer jüdischen Frau namens Hadassa, die jedoch den persischen Namen Esther erhielt und eine Cousine des ebenfalls jüdischen Hofbeamten Mordechai war. Dieser vereitelte nicht nur ein Attentat gegen den König, wofür der Lebensretter, wenn auch mit etwas zeitlicher Verzögerung, öffentlich geehrt wurde, sondern er erfuhr auch vom durch den Wesir Haman geplanten Genozid. Da Esther als Königin offenbar keinen Einblick in die Regierungsgeschäfte hatte, wird sie erst durch ihren Cousin über die bevorstehende Katastrophe in Kenntnis gesetzt. Nach einer Zeit des Fastens und der inneren Unentschlossenheit entscheidet sie sich, dem Rat Mordechais zu folgen und entgegen dem höfischen Protokoll, den König ohne zuvor erteilte Audienz aufzusuchen und gemeinsam mit seinem Wesir zu einem Festmahl einzuladen. Beim zweiten Festmahl dieser Art enthüllt Esther schließlich die Vernichtungspläne Hamans sowie ihre eigene jüdische Identität. Der Wesir wird daraufhin zum Tode verurteilt, dem jüdischen Volk das Recht zur Selbstverteidigung zugesprochen und somit der Genozid verhindert.

Als ich im vergangenen Jahr zum ersten Mal Einführung Altes Testament unterrichtete, bestand eine der schriftlichen Kursaufgaben darin, eine Einführung in ein atl. Buch zu verfassen. Bei den eingereichten Arbeiten fielen mir dann zwei Dinge auf: Erstens, die von Studentinnen eingereichten Arbeiten handelten überdurchschnittlich häufig entweder vom Buch Ruth oder dem Buch Esther, den einzigen Büchern innerhalb des AT, die über eine weibliche Protagonistin verfügen und auch den Namen einer Frau tragen. Zweitens, es gab bemerkenswerte kulturelle Unterschiede bzgl. der Beurteilung von Esthers Verhalten. So beantwortete etwa eine pakistanische Studentin die Frage nach dem Kern des Textes mit dem Verweis auf Esthers Gehorsam gegenüber ihrem Cousin, ihrem Volk, ihrer Kultur usw. Eine deutsche Studentin hingegen sah als Kernbotschaft des Textes den Ungehorsam Esthers gegenüber dem höfischen Protokoll, der strukturellen Benachteiligung von Minderheiten und der persischen Kultur.

Offenkundig sind beide Beobachtungen korrekt. Im Text lassen sich sowohl der Gehorsam Esthers als auch ihr Ungehorsam eindeutig nachweisen. Spannend ist daher die Frage, nach welchen Kriterien Esther entschieden haben könnte, welchen Handlungsprinzipien sie jeweils folgen würde. Der Vorstellung, Esther habe lediglich aus blinder Loyalität gegenüber ihrem Cousin bzw. ihrer Familie und ihrem Volk gehandelt, widerspricht ihr offenkundiges Zögern sowie ihre intensive Vorbereitung auf den Gang zum König. Eine wichtige Rolle erhält deshalb die Art und Weise, mit der gewisse Erwartungen an Esther herangetragen werden. Während die Gepflogenheiten am persischen Hof als nicht hinterfragbar dargestellt und Esther gewisse Informationen, wie die Nachricht vom bevorstehenden Genozid, gänzlich vorenthalten werden, findet zwischen ihr und Mordechai ein reger Dialog statt, innerhalb dessen Esther Informationen erhält, die sie überhaupt erst zu einer eigenständigen Entscheidung befähigen.

Hierin zeigt sich indirekt eine der insgesamt fünf klassischen Machtbasen, nämlich Macht durch Wissen bzw. Information,[iii] und auch wie diese instrumentalisiert werden kann, um bestimmte Personen oder Personengruppen stummzuschalten. Am effektivsten funktioniert dies, wenn man einzelnen Menschen oder auch größeren Massen Informationen vorenthält. Dies beklagt derzeit auch die russische Journalistin Schanna Agalakowa angesichts der Kriegsberichterstattung in Russland, die so gar nicht offiziell heißen darf und offenbar ausschließlich einseitig stattfindet.[iv] Da es sich hierbei somit im Wesentlichen um ein Machtinstrument handelt, ist es nicht überraschend, dass ein derartiger Umgang mit Information häufig auch mit einem Mangel an Chancengleichheit einhergeht. Leidtragende sind in diesem Fall, wie so oft, vor allem Frauen. So ist es bspw. bis heute für Frauen in Russland nicht möglich, bestimmte Berufe zu ergreifen, wie z.B. Lkw-Fahrerin, Zugführerin oder Kapitänin. Im Jahr 2018 betrug die Anzahl der für Frauen verbotenen Berufe in Russland noch 456.[v] Daran hat sich bis heute offenbar wenig geändert.

Diese strukturelle Benachteiligung von Frauen ist jedoch natürlich kein spezifisch russisches Problem. Auch wenn sie dort in gewisser Weise kulturell zu verankert sein scheint, ist das kein Einzelfall. In etlichen Kulturen im südlichen Afrika bspw. geht das Vorenthalten von Information insbesondere gegenüber Frauen so weit, dass über die lobola, den traditionellen Brautpreis, lediglich Männer verhandeln, und zwar i.d.R. die Onkel der künftigen Eheleute. Ein Mitspracherecht oder auch nur Einblick in die Verhandlungen haben also weder Bräutigam noch Braut und mit Letzterer auch sonst keine einzige Frau.

Leicht wäre es nun, den sozialen Verhältnissen im antiken Persien oder auch in Russland bzw. Südafrika den Stempel „sexistisch“ aufzudrücken, aber das ist möglicherweise völlig falsch. Zumindest wenn man Kate Mannes Definition von Sexismus folgt.[vi] Ihrer Ansicht nach ist es in der Debatte um Gleichberechtigung entscheidend, zwischen Sexismus und Misogynie zu unterscheiden. Ersteres ist für sie der – mehr oder weniger – wissenschaftliche Versuch, die vermeintliche Unterlegenheit oder auch Minderwertigkeit des weiblichen Geschlechts gegenüber dem männlichen zu erklären bzw. zu begründen. Misogynie hingegen setzt diese Minderwertigkeit schlichtweg voraus und leitet hieraus entsprechende gesellschaftliche Prinzipien ab. Die eben genannten Beispiele veranschaulichen dieser Definition zufolge somit allesamt misogyne Strukturen, nicht aber sexistische.

Das Perfide an der Misogynie ist deshalb, dass sie völlig grundlos funktioniert und daher vermeintlich auch nicht zu hinterfragt werden braucht. Es tut sich deshalb an diesem Punkt eine zweite Schnittstelle zur jüdischen Geschichte auf, und zwar zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n. Chr. Im Gegensatz zur Zerstörung des ersten jüdischen Tempels um das Jahr 586 v. Chr., welche von etlichen Propheten als Strafe für die Abkehr von der Tora immer wieder angekündigt worden war,[vii] geschah die Zerstörung dieses zweiten Tempels scheinbar ohne (geistlichen) Anlass. Die Generationen von Rabbinen unmittelbar nach der Tempelzerstörung befassten sich daher intensiv mit der Frage, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte. Ihre Antwort hierauf wurde zum terminus technicus der jüdischen Theologie und lautet śinat ḥinām, grundloser Hass.[viii]

Laut rabbinischer Lesart konnte der zweite jüdische Tempel also trotz eifrigen Torastudiums und dem Befolgen der biblischen Gebote nur deshalb zerstört werden, weil innerhalb des jüdischen Volkes grundloser Hass grassierte, der alle noch so guten Taten völlig in den Schatten stellte. Unabhängig davon, ob man dieser Deutung aus historischer Sicht zustimmt oder nicht, muss anerkannt werden, dass sich hieraus ein wichtiges ethisches Prinzip des Judentums entwickelt hat, das darin besteht, grundlosen Hass nicht nur zu vermeiden, sondern auch aktiv zu bekämpfen. Als Beispiel für eine moderne Form unbegründeten Hasses wird nicht selten Rassismus genannt.[ix] Die Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft oder Kultur ist ebenso unbegründet bzw. unbegründbar und deshalb theologisch sowie ethisch inakzeptabel wie die Benachteiligung aufgrund des Geschlechts.

Gerade hierin besteht aber auch eine Chance: weil die genannten Formen der Benachteiligung überhaupt keine Grundlage haben, kann auf sie auch verzichtet werden. Damit wird den zuvor Benachteiligten wieder zu ihrem Recht und der Gesellschaft insgesamt zur Gleichberechtigung verholfen. Das ist letztlich auch das Ziel des Feminismus, nämlich dass Frauen dieselben Rechte genießen können wie Männer. So betrachtet hat also das Buch Esther durchaus einiges mit Feminismus zu tun. Königin Esther lebt in vielerlei Hinsicht exemplarisch vor, wie Widerstand gegen unbegründete sowie unbegründbare Bevormundung und Benachteiligung aussehen kann. Den Finger in die argumentative Wunde der Unbegründbarkeit legt sie indes nicht. Aus der Unbegründbarkeit auch die Unsinnigkeit von geschlechtsbezogener Benachteiligung abzuleiten ist und bleibt die Aufgabe der Ausleger:innen, der Gläubigen, der Gemeinden und der Gesellschaft insgesamt.


[i] מגילה = (Schrift)rolle; vgl. Babylonischer Talmud, Megilla 2a

[ii] Liss, Hanna. 2019. Tanach: Lehrbuch der jüdischen Bibel. Schriften der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg 8. 4. überarb. Aufl. Heidelberg: Universitätsverlag Winter.

[iii] French Jr., J. P. R. & Raven, B. 1960. The Bases of Social Power. In Cartwright, D. & Zander, A. (Hg.), Group Dynamics. New York: Harper and Row. 607-623.

[iv] GMX. 2022. Prominente russische Journalistin Schanna Agalakowa verurteilt Moskaus Staatspropaganda [online]. Verfügbar unter: https://www.gmx.net/magazine/politik/russland-krieg-ukraine/prominente-russische-journalistin-verurteilt-moskaus-staatspropaganda-36714984

[v] Jacobs, Frank. 2018. These 104 Countries Restrict Women’s Right to Work [online]. 30. Mai. Big Think. Verfügbar unter: https://bigthink.com/strange-maps/these-104-countries-restrict-womens-right-to-work/

[vi] Manne, Kate. 2017. Down Girl: The Logic of Misogyny. Oxford: Oxford University Press.

[vii] Vgl. Jes 64,9; Jer 25,18; Hes 5,11 usw.

[viii] Babylonischer Talmud, Joma 9b,8

[ix] Adar, Ruth. 2015. What Is Sinat Chinam? [online]. Verfügbar unter: https://coffeeshoprabbi.com/2015/07/25/what-is-sinat-chinam/