Nicht immer treffen Menschen ihre Entscheidungen völlig rational. Wenn man den Forschungsergebnissen der modernen Neurowissenschaft Glauben schenkt, ist das menschliche Bewusstsein überhaupt nur an sehr wenigen Entscheidungsprozessen beteiligt.[i] Das meiste geschieht unterbewusst. Dennoch lässt sich beobachten, dass innere Glaubenssätze, sogenannte Kognitionen, einen großen Einfluss auf das menschliche Verhalten haben.[ii] Besonders Menschen, die derartige Glaubenssätze nicht nur für sich, sondern auch für andere zum unumstößlichen Dogma erheben, sind in ihrer Entscheidungsfreiheit oftmals eingeschränkt. Nicht selten sind solche Menschen religiös und entwickeln deshalb ihre Glaubenssätze – bewusst oder unbewusst – aus ihrem individuellen Bibelverständnis heraus.

Mit einer Person, auf die diese grobe Beschreibung zutrifft, stand ich vor wenigen Jahren im Austausch. Sie interessierte sich sehr für unsere Projekte in Südafrika und hatte sich vorgenommen, diese finanziell zu unterstützen, entschied sich schlussendlich aber gegen die Unterstützung, nachdem sie sich ein kurzes Video über die Arbeit vor Ort angeschaut hatte.[iii] Darin zu sehen waren u.a. Schwarze Frauen bzw. Mädchen, die teilweise kurze oder auch geflochtene Haare trugen. Nach Ansicht der besagten Person handelte es sich in beiden Fällen um Frisuren, die nicht mit dem christlichen Glauben vereinbar, da unbiblisch waren.

Dass es sich bei dieser Skepsis gegenüber aus weißer Sicht exotischen Haartrachten um keinen Einzelfall handelt, zeigt z.B. die Tatsache, dass es noch im Jahr 2020 allein im New Yorker Stadtteil Queens an elf Schulen strikte Frisuren-Regeln gab, die von Schwarzen Schüler:innen nicht eingehalten wurden oder eingehalten werden konnten und deshalb mehrfach zum Schulverweis führten.[iv] Einem kürzlichen Beitrag der BBC zufolge ist jedoch auch das nur die Spitze des Eisbergs dessen, was Schwarze Menschen regelmäßig an Diskriminierung aufgrund ihrer Haare erleben.[v] Allzu oft ist das Glätten krausen Haars ein Akt, der nicht etwa von ästhetischen Erwägungen her motiviert ist, sondern von dem Wunsch, in einer weiß dominierten Gesellschaft irgendwie dazuzugehören und mitreden zu können bzw. zu dürfen. Was die oben erwähnten Schulverweise indes besonders brisant macht, ist die Tatsache, dass sie sich allesamt an christlichen Schulen ereignet haben. Es muss überraschen, dass ausgerechnet eine Religion, die ihren eigenen, historischen Erfolg vor allem auf ihre universale, also von Herkunft, Geschlecht, Alter, Sprache, Kultur usw. unabhängige Anwendbarkeit zurückführt, für ein eigentlich alltägliches Thema wie die Frisuren nichtweißer Menschen derartig wenig Verständnis aufbringt. Woran liegt das?

Die vermeintlich biblisch-theologische Basis hierfür bilden vor allem 1 Kor 11,15 und 1 Tim 2,9. Der erstgenannte Vers befasst sich mit der grundlegenden Frage nach der Haarlänge sowie einer eventuellen Notwendigkeit eines Schleiers im Rahmen bestimmter geistlicher Handlungen. Da Thomas Schirrmacher diesem Textabschnitt sowie dessen oftmals sexistischer Fehlinterpretation ein ganzes Buch gewidmet hat,[vi] werde ich hierauf an dieser Stell nicht näher eingehen. Genauer möchte ich hingegen 1 Tim 2,9 betrachten, wo Paulus augenscheinlich anordnet, „dass die Frauen in schicklicher Kleidung sich schmücken mit Anstand und Besonnenheit, nicht mit Haarflechten und Gold oder Perlen oder kostbarem Gewand“ (LU17).

Dieser Vers überrascht insofern, als er einen Widerspruch zwischen geistlichem und materiellem Schmuck zu postulieren scheint, der sich gesamtbiblisch betrachtet so gar nicht erkennen lässt. Im Gegenteil: ganze Kapitel der Tora befassen sich ausschließlich mit der überaus prunkvollen Gestaltung des israelitischen Heiligtums sowie der hohepriesterlichen Amtskleidung.[vii] Man könnte freilich einwenden, dass es sich bei dem jeweils amtierenden Hohepriester stets um einen Mann handelte und die biblische Legitimation materiellen Schmucks somit für Frauen nicht gelte. Allerdings sind hierfür diejenigen Bibelstellen einfach zu zahlreich, die prunkvolle Kleidung, Schmuck, Kosmetik oder aufwändige Frisuren bei Frauen als positiv oder zumindest neutral darstellen.[viii]

Dennoch lässt sich beobachten, dass theologische Kommentare des 19. und (frühen) 20. Jahrhunderts völlig in der oben skizzierten Denktradition verharren und folglich gut gekleideten Frauen mit aufwendigen Frisuren einerseits Eitelkeit und andererseits Zeitverschwendung unterstellen.[ix] Nun wird bei dieser Argumentation jedoch völlig außer Acht gelassen, dass krauses Haar, im Gegensatz zu glattem, welligem oder gelocktem, i.d.R. deutlich mehr Aufmerksamkeit und Pflege erfordert. Eine beliebte sowie bewährte Methode, dem Haar über einen längeren Zeitraum eine individuelle Form zu verleihen, ist daher das Flechten. Allerdings steht ja gerade das im Widerspruch zur apostolischen Lehre, wie sie sich aus 1 Tim 2,9 zu ergeben scheint. Interessant für mich war daher die Frage, wie der Umgang mit dem genannten Vers in der Schwarzen, konkreter in der afrikanischen Theologie aussieht. Das Ergebnis meiner Recherche ist jedoch ernüchternd: es gibt so gut wie keinen Umgang mit 1 Tim 2,9.

Eine der wenigen Ausnahmen stellt der nigerianische Theologe S. O. David Awokoya dar, der 1 Tim 2,9-10 immerhin einen vollständigen Artikel widmet.[x] Darin stößt er allerdings in dasselbe Horn wie die weißen Theologen des 19. und 20. Jahrhunderts: während er das Thema des Haareflechtens weitgehend ignoriert, beklagt er jedoch umso ausführlicher die Eitelkeit sowie den angeblich unzüchtigen Kleidungsstil vieler Frauen, insbesondere in Nigeria. Schließlich versteigt er sich sogar zu der absurden These, viele Vergewaltigungen seien verhinderbar, würden Frauen und Mädchen sich nur weniger freizügig kleiden.[xi] Hierin liegen gleich zwei falsche Annahmen: erstens, die Annahme, dass die Sichtbarkeit von Haut mit Freizügigkeit im Sinne von Unmoral gleichzusetzen sei und, zweitens, die Annahme, dass eine Zunahme von sichtbarer Haut notwendigerweise zu sexuellen Übergriffen führt. Dass beides nicht stimmt, belegen bspw. empirische Untersuchungen im Bereich der Freikörperkultur: während hier bei den Befragten überhaupt keine Fälle von Vergewaltigung festgestellt werden konnten, gaben bei einer nicht-nudistischen Vergleichsgruppe 3% der Befragten an, bereits eine Person vergewaltigt zu haben oder vergewaltigen zu wollen.[xii] Ähnlich fällt auch der Erfahrungsbericht des klinischen Psychologen Herbert S. Roth aus, der von lediglich einem einzigen Fall sexuellen Fehlverhaltens innerhalb einer über Jahrzehnte aktiven naturistischen Community berichtet, wobei dieser Fall auch noch wesentlich zügiger und intensiver aufgearbeitet wurde als außerhalb der FKK-Szene üblich.[xiii]

Es zeigt sich also, dass traditionelle Auslegungsmodelle zu 1 Tim 2,9 letztlich in eine logische Sackgasse führen. Wie aber ist der Text stattdessen zu verstehen und welche Bedeutung kann dieser gerade im afrikanischen Kontext überhaupt haben? Ignoriert er Schwarze Menschen und deren Anliegen einfach oder ist er gar offen rassistisch?

Die Schwierigkeit der neutestamentlichen Briefe liegt im Allgemeinen darin, dass sie letztlich nur eine Seite eines Zwiegesprächs darstellen, dessen andere Hälfte sich nicht bis in Letzte rekonstruieren lässt. Der historische sowie argumentative Kontext ist daher oftmals nur spekulativ. So auch hier. Darüber hinaus verleiht die Kanonisierung der Briefe diesen den Anschein universaler Gültigkeit, was grundsätzlich wohl auch richtig ist, sich aber nicht so ohne Weiteres auf jede situative Einzelaussage übertragen lässt. Außerdem ist in diesem speziellen Fall zu beachten, dass der erste Brief an Timotheus zu den Pastoralbriefen zählt, die ursprünglich eben keine Gemeinde(n), sondern Einzelpersonen als Adressaten hatten, folglich also in gewisser Weise intimer sind und starke lokale Bezüge aufweisen.

Da Timotheus zur Entstehungszeit des an ihn gerichteten Briefes offenbar die Gemeinde der jüdischen sowie nichtjüdischen Jesusnachfolger:innen in Ephesus leitete, nimmt der amerikanische Theologe Gary G. Hoag an, dass sich der Text an vielen Stellen ganz konkret auf Gepflogenheiten und Geschichten aus ebendieser Stadt bezieht.[xiv] Als Beleg für diese These führt er einen in Ephesus verfassten, antiken Roman namens Ephesiaka an, der von der Liebesgeschichte zwischen Antheia und Habrokomes handelt. Ein wiederkehrendes Thema in dieser vmtl. schon vor ihrer Verschriftlichung bekannten Geschichte ist die Verehrung und Anbetung der Artemis (bzw. Diana/Isis). Bemerkenswert ist das deshalb, weil praktisch alle Handlungen und Verhaltensweisen, von denen Frauen in 1 Tim 2,9-15 abgeraten wird, im Rahmen der in Ephesiaka beschriebenen Artemis-Verehrung eine zentrale Rolle spielen. Hierzu gehören u.a. geflochtene Haare, teure Kleidung, Lehrtätigkeit, das Ausüben von Autorität, eine bestimmte Art und Weise, Kinder zur Welt zu bringen usw.[xv] Laut Hoag lässt sich aus dem umstrittenen Text also bspw. keineswegs ein generelles Lehrverbot für Frauen ableiten. Vielmehr richten sich die Anweisungen ganz konkret – um nicht zu sagen ausschließlich – an die Frauen im historischen Ephesus und haben die Funktion, zur Entmystifizierung alltäglicher Handlungen beizutragen.

Dieser Lesart zufolge wären die meisten Empfehlungen bzw. Gebote und Verbote aus 1 Tim 2,9-15 nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich begrenzt. Wenn dem so ist, fügt sich der Text auf einmal auch harmonisch in das gesamtbiblische Zeugnis dessen ein, was Frauen können, dürfen und sollen. Verkündigung und Lehre gehören bspw. eindeutig dazu. Außerdem wird hiermit deutlich, dass es sich bei 1 Tim 2,9 keineswegs um eine Pauschalverurteilung aller Schwarzen Frauen mit geflochtenen Haaren, Braids, Cornrows, Dreadlocks, Twists, Bantu Knots usw. mit oder ohne Accessoires handelt.

Dass der Gott der Bibel Rassismus in jeglicher Form ablehnt, zeigt sich höchstwahrscheinlich bereits in einer wesentlich früheren Episode: in Num 12 wird berichtet, wie Moses Schwester Mirjam von Aussatz befallen wird. Dies wird als eindeutig göttliche Strafe dargestellt. Den Anlass hierfür bildet Mirjams Reden, ggf. Lästern, gegen Mose aufgrund dessen kuschitischer, also vmtl. Schwarzer Frau. (Ob dies bedeutet, dass die in Ex 2,21 erwähnte Zippora zwar Tochter des Priesters in Midian, selbst jedoch afrikanischer Abstammung war, lässt sich aufgrund der spärlichen Informationslage allenfalls mutmaßen.) Festhalten lässt sich abschließend auf jeden Fall folgendes: Wert und Würde eines Menschen sind bei Gott nicht von Geschlecht oder Hautfarbe abhängig und dürfen hiervon auch sonst nirgends abhängig gemacht werden.


[i] Rott, Hans. 2009. Die Freiheit in den Zeiten neurowissenschaftlichen Fortschritts [online]. S. 5-6. Verfügbar unter: https://www.uni-regensburg.de/philosophie-kunst-geschichte-gesellschaft/theoretische-philosophie/medien/texte-rott/freiheit-in-den-zeiten_29.pdf

[ii] Pucher, Klaus. 2019. Umsetzung von Motiven in Resultate. Diplomarbeit. Graz: Europäische Akademie für Logotherapie und Psychologie. Verfügbar unter: https://www.ealp.at/www.ealp.at/download/10/diplomarbeiten/855/diplomarbeit-pucher-klaus.pdf

[iii] Betzalel e.V. 2017. Refilwe Mabhunga: Kids Clubs Südafrika. 14. November. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=qvPWt9qzoXU

[iv] Salvadore, Sarah. 2020. Catholic Schools Slow to Accept Cultural Significance of Black Hair. National Catholic Reporter (5): 5-7. S. 5.

[v] BBC News. 2022. The Tangled History of Black Hair Discrimination in the US. 24. Februar. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=KCh-AeU-o_4

[vi] Schirrmacher, Thomas. 2002. Paulus im Kampf gegen den Schleier: Eine alternative Auslegung von 1. Korinther 11,2-16. 5. erw. Aufl. Nürnberg: VTR.

[vii] Ex 25-31; 35-40

[viii] Gen 24,53; Ex 3,22; Est 2,12; Hl 4,1; 6,5; Hes 16,11 usw.

[ix] Bible Hub. 2021. 1 Timothy 2:9 [online]. Verfügbar unter: https://biblehub.com/commentaries/1_timothy/2-9.htm

[x] Awokoya, S. O. David. 2014. Female Dressing and Moral Decadence Among Christian Youths in Nigeria in the Light of I Timothy 2:9-10. Practical Theology (Baptist College of Theology, Lagos) (7): 171-186.

[xi] Ebd. S. 183.

[xii] Goodson, Aileen. 1991. Therapy, Nudity and Joy: Therapeutic Use of Nudity Through the Ages. Los Angeles: Elysium Growth Press.

[xiii] Price, Beverly B. 2010. Research on Nudity, Child Molestation and Self-Esteem as it Relates to Both Nudist and Non-Nudist Children [online]. S. 4. Verfügbar unter: https://socalnaturist.org/law/brief.pdf

[xiv] Hoag, Gary G. 2020. Demystifying Gender Issues in 1 Timothy 2:9-15; with Help from Artemis. Evangelical Review of Theology 44(3): 242-249.

[xv] Ebd. S. 245-248.