Keine Kultur kann ohne Werte existieren. Werte sind das, was das Handeln von Menschen bzw. Gesellschaften bestimmt oder zumindest im Idealfall bestimmen soll. Werte haben jedoch, zumindest pädagogisch betrachtet, einen großen Nachteil: sie sind abstrakt. Es ist also ein Vehikel erforderlich, mithilfe dessen die gewünschten Werte veranschaulicht und, gerade auch für Kinder, greifbar gemacht werden können. Das wohl mit Abstand verbreitetste Vehikel dieser Art sind Geschichten, allen voran Märchen.

Eine typische, südafrikanische Geschichte dieses Genres ist die von UMamba kaMaquba. Sie existiert in verschiedenen Sprachen und Versionen, von denen die wohl populärste die von Christian Thema Msimang 1983[i] in isiZulu verfasste sein dürfte.[ii] Die Geschichte handelt von zwei Schwestern. Eines Tages macht sich die Ältere namens Thokozile auf, um Mamba von Maquba zu finden und zu heiraten. Unterwegs trifft sie nacheinander zwei alte Frauen, die sie jeweils um Hilfe bitten. Der Ersten soll sie Eiter von den Augen lecken, um auf diese Weise ihre Sehfähigkeit wieder herzustellen, der Zweiten soll sie helfen, eine schwere Last so aufzuladen, dass sie ohne größere Schwierigkeiten transportiert werden kann. Beiden hilft Thokozile bereitwillig und wird dafür mit Informationen über Wohnort und Verhalten von Mamba von Maquba belohnt.

In Mambas Dorf angekommen, wird die junge Frau von der Dorfgemeinschaft zunächst aufgefordert, für ihren künftigen Mann eine Hirsespeise zuzubereiten und in dessen Hütte auf ihn zu warten. Auch dieser Aufforderung gehorcht Thokozile ohne Widerworte. Nach Einbruch der Dunkelheit kehrt nun auch Mamba in sein Dorf und schließlich seine Hütte zurück, jedoch entpuppt sich dieser nicht als Mensch, sondern als Schlange. Sogleich beginnt das Reptil, seine Braut zu umwinden, was diese protestlos über sich ergehen lässt. Mehr noch: Thokozile entscheidet sich trotz der gruseligen Erscheinung ihres Bräutigams bei diesem zu bleiben und bringt sogar den gemeinsamen Nachwuchs zur Welt.

Als nun die jüngere Schwester von Thokoziles familiärem Glück erfährt, wird sie neidisch und entschließt sich, ebenfalls Mambas Braut zu werden. Auf dem Weg in sein Dorf begegnet auch sie den beiden alten Frauen, verweigert ihnen aber jegliche Hilfe. Im Dorf angekommen, soll auch sie Hirse zubereiten, was sie jedoch ebenfalls ablehnt. Als am Abend schließlich Mamba in seine Hütte zurückkehrt und beginnt, sich um den Körper seiner designierten, zweiten Ehefrau zu wickeln, wehrt diese sich dagegen und beginnt panisch zu schreien. Als Reaktion hierauf fängt Mamba nun an, auf die junge Frau einzuprügeln, sodass diese nicht nur für immer aus Mambas Hütte, sondern auch aus dem Dorf flieht.

Zu guter Letzt wird die ältere Schwester nun noch ein weiteres Mal belohnt, indem sie sich an den Ratschlag einer der beiden alten Frauen erinnert und den Schlangenkörper ihres Gatten in viele kleine Teile zerschneidet. Auf wundersame Weise verwandelt dieser sich daraufhin zurück in einen Menschen und es stellt sich heraus, dass Mamba dereinst verhext worden war.

Diese Geschichte enthält ohne Zweifel eine ganze Reihe von hochinteressanten und nicht zuletzt auch verstörenden Aspekten. Mit zweien davon möchte ich mich hier etwas näher auseinandersetzen. Der erste Aspekt ist die ungleiche Beurteilung des Verhaltens der weiblichen bzw. männlichen Protagonist:innen. Während der Ungehorsam der jüngeren Schwester klar als unangemessen gekennzeichnet, um nicht zu sagen gebrandmarkt, wird, erscheint die Brutalität Mambas als völlig legitim.[iii] Der zweite Aspekt ist die Tatsache, dass der geradezu unbedingte Gehorsam, der von der älteren Schwester demonstriert wird, zumindest im Rahmen der Erzählung offenbar nur von Frauen bzw. Mädchen erwartet wird, nicht jedoch von Männern.

Letzteres ist vor allem deshalb besonders bemerkenswert, weil es sich auch in europäischen Märchen ganz ähnlich verhält. Beim Lesen oder Hören von UMamba kaMaquba kommt man als Deutsche:r ja kaum umhin, sich z.B. an Frau Holle aus Grimms Kinder- und Hausmärchen oder Bechsteins Die Goldmaria und die Pechmaria zu erinnern. Tatsächlich scheint dieses Wiederkehrende Motiv in europäischen Märchen so populär zu sein, dass ihm im Aarne-Thompson-Uther-Index, dem gängigen Klassifikationsinstrument für Märchen und ähnliche Geschichten, eine eigene Kategorie gewidmet wurde: ATU 480D Geschichten von artigen und unartigen Mädchen. Zumindest im Bereich sog. Volksmärchen sucht man vergleichbare Geschichten mit männlichen Hauptpersonen meist vergeblich.

Wenn also derartig viele Märchen den Gehorsam von Frauen und Mädchen zum Gegenstand haben, aber praktisch keines den Gehorsam von Männern und Jungen, dann ist es mehr als naheliegend, davon auszugehen, dass es hier letztlich um den Gehorsam von Frauen gegenüber Männern bzw. dem Patriarchat geht. Und dieses Motiv ist weder neu noch überwunden. Bereits das 1592 von William Shakespeare verfasste Stück Der Widerspenstigen Zähmung (The Taming of the Shrew), welches seinerseits auf älteren, mittelalterlichen Quellen basiert, vermittelt diese Art der Moral, aber auch zeitgenössische Hollywood-Filme blasen ins selbe Horn.

Im Kino wird zwar seltener der unbedingte, weibliche Gehorsam inszeniert, dafür aber der Mangel an ebendiesem Gehorsam und das daraus resultierende Chaos zelebriert. Ein Paradebeispiel hierfür ist der Ende letzten Jahres erschienene Film House of Gucci, welcher von Patrizia Reggiani handelt, die sich zunächst auf raffinierte Weise eine einflussreiche Position innerhalb des Gucci-Imperiums sichert und schlussendlich ihren Ex-Mann, Maurizio Gucci, kaltblütig ermorden lässt, wofür sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird.

So widerwärtig die Vorgehensweise der Protagonistin hier auch erscheinen mag, so bemerkenswert ist doch, dass genau zur gleichen Zeit der jüngste James Bond-Film im Kino lief, dessen Hauptfigur zwar auf ähnliche intrigante Weise agiert, hierfür jedoch als Held gefeiert wird und natürlich ein Mann ist. Diesen Umstand hat Theresia Heimerl bereits 2014[iv] sehr treffend so zusammengefasst: „Böse Frauen mit Sympathiefaktor sind nach wie vor eine nicht existierende Spezies“ und weiter „böse Frauen scheitern nicht heldenhaft, sie werden brutal auf ihren Platz in der patriarchalen Gesellschaftsordnung zurückverwiesen oder aus dieser verbannt.“

Allzu oft hört man – auch heute noch – vermeintlich theologische Begründungen für diesen Umstand. Bspw. wird darauf verwiesen, dass laut Gen 2,18 die Frau doch die „Gehilfin“ (Schlachter, Menge) des Mannes zu sein habe. Dass dieser Begriff jedoch im hebräischen Urtext in der männlichen Form steht und an anderen Stellen überwiegend für Gott verwendet wird (z.B. Dtn 33,29), wird hierbei meist unterschlagen. Zu sehr hat man sich offenbar daran gewöhnt, Frauen lediglich als mutierte Rippen zu betrachten, dabei entspricht auch diese Lesart ganz und gar nicht dem Geist des hebräischen Textes. Vielmehr ist Gen 2,21-22 so zu übersetzen: „Und Gott, haSchem[v], ließ einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen und dieser schlief. Und Er nahm eine seiner [beiden] Seiten und schloss die Stelle mit Fleisch. Und haSchem formte aus der Seite, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und er brachte sie zu dem Menschen.“ Es geht hier also primär um zwei gleiche Hälften eines Ganzen und nicht um eine Hierarchie zwischen den Geschlechtern. Einer antiken, jüdischen Auslegung zufolge war der erste Mensch vor der Teilung in zwei Individuen sogar androgyn, trug also beiderlei Geschlechter in sich,[vi] was den angeblichen Vorrang eines Geschlechtes vor dem anderen freilich noch absurder erscheinen lässt.

Zusammengefasst lässt sich also folgendes feststellen: der (unbedingte) Gehorsam von Frauen gegenüber Männern, wie er uns in so vielen Märchen, Geschichten und Filmen begegnet, lässt sich biblisch-theologisch sehr schlecht begründen. Und das bedeutet: wir brauchen neue und bessere Geschichten, um bessere Werte zu vermitteln. In Afrika wie in Europa.


[i] Msimang, Christian Themba 1983. Folktale Influence on the Zulu Novel. Dissertation, University of South Africa.

[ii] Vgl. Masaku, Norma 2016. Folklore and Its Influence on Homophobic Behaviour in the Zulu Culture: A Brief Analysis of UMamba kaMaquba. Southern African Journal for Folklore Studies 25(3): 128-137.

[iii] Vgl. Thabade, Slindile 2017. Tamar as Victim of Levirate Marriage? Reading Genesis 38 within a Zulu Cultural Context of Marriage. MTh Thesis, Stellenbosch University.

[iv] Heimerl, Theresia 2014. Problematische Personifikationen: Aktuelle Gestalten des Bösen in Film und TV. Herder Korrespondenz 68(7): 358-362. S. 358/360.

[v] Wörtlich „der Name“, da hier der hebräische Gottesname verwendet wird, der sich allerdings nur schwer übersetzen lässt.

[vi] Genesis Rabba 8,1; vgl. Gradwohl, Roland 2002. Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen 2. 3. Aufl. Stuttgart: Calwer Verlag. S. 35; Wacker, Marie-Theres 2011. „Gender-Trouble im Paradies: Ein Gespräch zwischen biblischer Exegese und Geschlechterforschung.“ In Pfeiffer, Werner (Hg.), Orientierungen aus Religion und Gesellschaft, 180-194. Werl: Edition Hellweg. S. 192.