In der vergangenen Woche war ich, wenn auch eher passiv, an einem interessanten Gespräch beteiligt, und zwar zwischen einem jungen Studenten, der ehrenamtlicher Lobpreisleiter einer evangelikal geprägten Freikirche ist, und einer alleinerziehenden Pastorin mit baptistischem Hintergrund, die dieses Amt derzeit jedoch nicht ausübt. Gegenstand des Gesprächs waren zwischenmenschliche, insbesondere romantische Beziehungen. Vor allem die Herausforderungen der Partner:innenwahl wurden hierbei intensiv diskutiert. Im Rahmen dieser Unterhaltung outete sich der junge Lobpreisleiter schließlich als pansexuell und erklärte, derzeit in einer Partnerschaft mit einem Mann zu leben.
Während eine gleichgeschlechtliche Beziehung für die Pastorin bis dato stets ein unzweifelhafter Indikator für eine vorliegende Homosexualität gewesen war, erläuterte der Student, keineswegs homosexuell zu sein, sich also nicht ausschließlich von Männern erotisch angezogen zu fühlen. Stattdessen sei für ihn das einzig ausschlaggebende Kriterium bei der Partner:innenwahl der Charakter der Person. Ob diese dann jedoch weiblich, männlich, inter- oder transgeschlechtlich, nichtbinär oder queer sei, spiele keine Rolle. Hiermit grenzte der junge Mann seine eigene sexuelle Orientierung vom Phänomen der Bisexualität ab, innerhalb derer sich die sexuelle Präferenz lediglich auf Männer und Frauen richtet, deren jeweiliges soziales Geschlecht mit dem biologischen korreliert.
Die vielen sich aus der pansexuellen Orientierung ergebenden Beziehungsmöglichkeiten waren für die Pastorin offenkundig gedankliches Neuland, weswegen sie begann, eine ganze Reihe verschiedener Fragen zu stellen. Eine dieser Fragen, die – um es gleich vorweg zu nehmen – allerdings unbeantwortet blieb, lautete: „Wie wollt ihr jemals Kinder kriegen?“ Obschon diese Frage auf den ersten Blick naheliegend erscheinen mag, so ist sie doch in verschiedenerlei Hinsicht problematisch.
Da ist zunächst der demografische Kontext Südafrikas: laut jüngsten Erhebungen wachsen 18,7% aller südafrikanischen Kinder zwischen 0-4 Jahren ohne Eltern und zusätzliche 42,5% ohne Vater auf.[i] Vor diesem Hintergrund erscheint die in der Frage vorausgesetzte Notwendigkeit, Kinder zeugen zu müssen, beinahe zynisch. Zumindest darf, ethisch betrachtet, der Kinderwunsch nicht isoliert von der Bereitschaft betrachtet werden, Kinder auch großziehen zu wollen. Ein zweiter problematischer Aspekt ist die vermeintliche Vermehrungsnotwendigkeit selbst, da diese insbesondere verheiratete Frauen de facto zu Gebärmaschinen degradiert und andererseits gerade für die Frauen, bei denen der Nachwuchs ausbleibt, oftmals schwerwiegende Folgen hat. Innerhalb der Kulturen bestimmter Ethnien, etwa der amaZulu, kann dies bspw. zu Polygamie führen – nach dem Motto: wenn die erste Ehefrau keine Nachkommen zur Welt bringt, dann vielleicht die zweite – bei vielen anderen Volksgruppen können die Folgen hingegen Trennung und/oder außereheliche sexuelle Kontakte sein.
Ungeachtet dessen gibt es – sowohl in Afrika als auch in Europa – die Tendenz, Fortpflanzung als das eigentliche Ziel der Ehe, wenn nicht gar des irdischen Daseins überhaupt zu betrachten. Die vermeintlichen Kronzeugen für diesen oftmals theologisch unterfütterten Ansatz sind Gen 1,28 (vgl. Gen 9,1.7) sowie 1 Tim 2,15. Dass sich die Aufforderung „seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde“ (Gen 1,28) jedoch auf eine Population beziehen muss und nicht zwangsläufig auf jedes einzelne Individuum innerhalb der entsprechenden Population, ergibt sich schon aus der Tatsache, dass eine einzelne Person die Erde unmöglich füllen kann. So bestätigt auch Mt 19,12, dass es von der Regel, sich zu vermehren, Ausnahmen geben kann und diese völlig legitim sind. Darüber hinaus zeigt bspw. das Buch Ester, dass dies durchaus auch für Verheiratete angenommen werden kann. Immerhin sind die Ehe sowie der Heldinnenstatus von Königin Ester, nicht nur innerhalb des Judentums, unbestritten und dennoch wird von keinerlei Nachkommen berichtet.
Etwas problematischer scheint da die paulinische Aussage, die Frau werde „gerettet werden dadurch, dass sie Kinder zur Welt bringt“ (1 Tim 2,15). Nicht nur widerspricht dies allen sonstigen soteriologischen Aussagen des Neuen Testaments, es passt auch nicht zum Kontext des an Timotheus adressierten Briefs: 1 Tim 4,3 legt nahe, dass dessen Gemeinde sich der als Irrlehre beschriebenen Meinung ausgesetzt sah, Ehe (sowie deren Vollzug) seien an sich Sünde und somit unzulässig. Anliegen des Paulus war es also, aufzuzeigen, dass dem nicht so ist, sondern frau auch trotz Ehe und Kindergebären ihre Erlösung nicht einbüßt. Und tatsächlich lässt sich das in 1 Tim 2,15 verwendete διὰ (durch) in Kombination mit dem nachfolgenden Genitiv auch mit „trotz“ wiedergeben.[ii] Demnach wäre die wohl sachgemäßere Übersetzung von 1 Tim 2,15: „Sie wird aber gerettet werden trotz dessen, dass sie Kinder zur Welt bringt“.
Im Gespräch zwischen Pastorin und Student über dessen aktuelle Beziehung blieb die Frage nach dem Nachwuchs jedoch nicht die einzige. So lautete eine weitere Frage: „Wer von euch ist die Frau?“ Den Einwand, dass es in der besagten Beziehung keine Frau gebe, sondern beide Partner selbstverständlich Männer seien und dies auch blieben, wollte die junge Mutter nicht so einfach gelten lassen. Sie machte daher deutlich, dass es ihr speziell um den Geschlechtsakt ging und sie gerne wissen wollte, wie man sich diesen konkret vorzustellen habe.
Da die Frage dem jungen Mann verständlicherweise zu persönlich war, blieb auch diese unbeantwortet. Und doch war es wiederum die Frage selbst, die tief blicken ließ. So ließ etwa die Formulierung der Frage erahnen, dass für die Pastorin sowohl die aktive als auch passive Rolle bei der Penetration praktisch untrennbar mit entsprechenden Geschlechterstereotypen verbunden waren. Ein Phänomen, dass sich schon in Texten der griechisch-römischen Antike beobachten lässt.[iii] Dort galt die penetrierte Person, egal ob es sich dabei um einen Mann oder eine Frau handelte, als unterlegen und deshalb weiblich. Folglich war freien Bürgern der gleichgeschlechtliche Verkehr nur mit Minderjährigen oder Sklaven erlaubt, da der Koitus zweier freier Männer unweigerlich zur sozialen Degradierung des passiven Partners geführt hätte. Dieser wäre damit quasi auf den weit unterlegenen Rang einer Frau verwiesen worden, was es unter allen Umständen zu verhindern galt.
Diese Geschlechterzuschreibungen, welche Männlichkeit mit Dominanz und Weiblichkeit mit Devotion gleichsetzen, sind Teil dessen, was seit den 1990er Jahren als heterosexuelle Matrix[iv] bezeichnet wird. Diese geht davon aus, dass mit dem biologischen Geschlecht automatisch auch je eine bestimmte sexuelle Orientierung sowie vermeintlich geschlechtstypische Verhaltensweisen einher gehen. Obzwar u.a. von fundamentalen Gläubigen praktisch aller abrahamitischen Religionen immer wieder gerne Statistiken bemüht werden, die diese Stereotype scheinbar bestätigen,[v] so gehört zum Gesamtbild jedoch auch die Erkenntnis, dass empirische Werte für Individuen kaum eine Aussagekraft besitzen. Mit anderen Worten: nur weil z.B. die Mehrheit aller Mädchen gerne mit Puppen spielt, bedeutet das nicht, dass jedes einzelne Mädchen unbedingt gerne mit Puppen spielen muss.
Die sich aus der heterosexuellen Matrix ergebende Gleichsetzung von Weiblichkeit und Devotion bzw. Schwäche, Unterordnung, Fürsorglichkeit usw. ist deshalb schädlich, und zwar in zweierlei Hinsicht. Einerseits führt diese verzerrte Wahrnehmung von Weiblichkeit dazu, dass z.B. männlichen Opfern sexuellen Missbrauchs, der durch Frauen verübt wurde, weniger geglaubt wird als weiblichen Opfern bzw. die Taten in der Öffentlichkeit, den Medien und auch der strafrechtlichen Aufarbeitung heruntergespielt werden. Dies lässt sich beispielhaft am Fall der 34-jährigen Lehrerin Mary Kay Letourneau zeigen, die 1997 das erste Mal wegen sexuellen Missbrauchs eines 12-jährigen Schülers vor Gericht stand.[vi] In der popkulturellen Rezeption des Falls wurde Letzterer immer mehr zu einem Helden stilisiert, dem es gelungen war, seine Lehrerin zu verführen. Dass er selbst jedoch das Opfer war, erschien vielen Außenstehenden offenkundig unvorstellbar. Eine Einschätzung, die bei vertauschten Geschlechterrollen – männlicher Lehrer und weibliche Schülerin – praktisch undenkbar wäre.
Andererseits – und das ist die rein zahlenmäßig weitaus schwerwiegendere Folge der verzerrten Geschlechterwahrnehmung – führen die genannten Stereotype zu einer strukturellen und nahezu flächendeckenden Benachteiligung von Frauen. Diese macht sich bspw. in Form des geschlechtsspezifischen Lohngefälles (Gender-Pay-Gap) bemerkbar, welches in Südafrika 2015 rund 16% betrug.[vii] In Deutschland verdienten Frauen 2020 im Durchschnitt sogar ganze 18% weniger als Männer bei gleicher Arbeit.[viii] Hinzu kommt noch die Tatsache, dass Frauen i.d.R. schwerer eine Anstellung finden als Männer (Gender Employment Gap) und von vielen Berufen, gerade im geistlichen Bereich, grundsätzlich ausgeschlossen werden.
Es soll daher an dieser Stelle nicht um die Legitimierung bzw. Diskreditierung oder überhaupt eine Bewertung der eingangs erwähnten Pansexualität gehen. Allerdings hat sich gezeigt, dass anhand des oben beschriebenen Falls von Pansexualität überkommene Geschlechterstereotype sichtbar werden, die eine gesellschaftliche Ungleichheit begünstigen und evtl. sogar erzeugen. Dies macht nicht zuletzt auch Gewalt gegen Frauen aufgrund ihres Geschlechts wesentlich wahrscheinlicher als Gewalt gegen Männer. So gaben in einer 2016 in Diepsloot, einem zu Johannesburg gehörenden Township, durchgeführten Umfrage 56% der befragten Männer an, innerhalb nur eines Jahres mindestens eine Frau vergewaltigt oder geschlagen zu haben.[ix]
Eine Gesellschaft, die diese verheerenden Missstände ernsthaft ändern möchte, muss damit beginnen, ihre eigene Wahrnehmung der unterschiedlichen Geschlechter zu korrigieren. Noch viel zu oft spielen Frauen und Mädchen lediglich Nebenrollen, wo ihnen eigentlich Hauptrollen zustehen.
[i] Südafrika. Statistics South Africa. 2013. South Africa’s Young Children: Their Family and Home Environment, 2012. Pretoria: Statistics South Africa. Online verfügbar unter: http://www.statssa.gov.za/publications/Report-03-10-07/Report-03-10-072012.pdf
[ii] Vgl. Hubbard, Moyer. 2012. Kept Safe Through Childbearing: Maternal Mortality, Justification by Faith, and the Social Setting of 1 Timothy 2:15. Journal of the Evangelical Theological Society 55(4): 743-762.
[iii] Klabunde, Michael R. 2001. Boys or Women? The Rhetoric of Sexual Preference in Achilles Tatius, Plutarch, and Pseudo-Lucian. PhD Dissertation. University of Cincinnati, Cincinnati. 4-20.
[iv] Butler, Judith. 1990. Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Milton Park: Routledge.
[v] Vgl. Davis, Jac T. M. & Hines, Melissa. 2020. How Large Are Gender Differences in Toy Preferences? A Systematic Review and Meta-Analysis of Toy Preference Research. Archives of Sexual Behaviour 49: 373-394.
[vi] Der Fall. 2021. Eine Lehrerin missbraucht ihren 12-jährigen Schüler | Der Fall Mary Kay Letourneau. 26. Oktober. Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=6hlwahNaUt4
[vii] Bosch, Anita. 2015. What’s the Gender Pay Gap in South Africa? [Online]. Davos: World Economic Forum. Verfügbar unter: https://www.weforum.org/agenda/2015/08/whats-the-gender-pay-gap-in-south-africa/
[viii] Statistisches Bundesamt. 2021. Gender Pay Gap 2020: Frauen verdienten 18 % weniger als Männer. Pressemitteilung Nr. 106, 9. März. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. Online verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/03/PD21_106_621.html
[ix] Malan, Mia. 2016. STUDY: 56% of Surveyed Diepsloot Men Have Raped or Beaten a Woman in the Past Year [Online]. Johannesburg: Bhekisisa Centre for Health Journalism. Verfügbar unter: https://bhekisisa.org/article/2016-11-29-00-study-more-than-half-of-diepsloot-men-have-raped-or-beaten-a-woman-in-the-past-year/