Nach rund einem Monat, den ich mittlerweile wieder in Deutschland bin, ist ein guter Zeitpunkt gekommen für eine kleine Rückschau auf die Zeit in Südafrika und ein vorläufiges Resümee. Was hat sich verändert – sowohl bei mir als auch bei den Menschen, denen ich begegnet bin – und welche dieser Veränderungen wird in irgendeiner Form Bestand haben oder fortwirken? Kurz: was bleibt eigentlich?

In einem Wort zusammengefasst kann die Antwort auf diese Frage mit Sicherheit lauten: Eindrücke. Während der drei Monate in Südafrika gab es viele Begegnungen, die gleichermaßen tiefe wie auch bleibende Eindrücke hinterlassen haben. Und das wohl auf beiden Seiten. Zu diesen Eindrücken gehören auch Geschichten, die hier bislang unerzählt blieben. Geschichten wie etwa die der 27-jährigen Tadisa[i].

Tadisa wurde in Simbabwe geboren und ist auch dort aufgewachsen. Das jedoch viel zu schnell. Die Kinderarbeit zwang sie dazu, lange vor der Zeit erwachsen zu werden. Aber auch mit dem von Tadisa verdienten Geld gelang es ihrer Familie nicht, in dem wirtschaftlich gebeutelten Land auf einen grünen Zweig zu kommen. So suchten immer mehr Familienangehörige im benachbarten Südafrika ihr Glück. Schließlich auch Tadisa.

Obwohl sie in der „Regenbogennation“ mehr als nur ein Mal fremdenfeindlichen Ressentiments und sogar handfesten Übergriffen ausgesetzt war, gelang es ihr auch ohne Hochschulabschluss zu bescheidenem Wohlstand zu gelangen. Dieser erlaubte es ihr, eine Mietwohnung zu beziehen, wo sie mit ihren beiden Söhnen bis zum vergangenen Jahr lebte. Nach anderthalb Jahren Pandemie mit mehreren Lockdowns und damit verbundenen Kündigungen waren ihre Ersparnisse jedoch aufgebraucht, sodass sie mit den Zwillingen zu ihrer mittlerweile in Johannesburg lebenden Mutter ziehen musste.

Der Vater ihrer beiden Kinder, Tadisas damaliger Verlobter, hatte sich kurz zuvor von ihr getrennt. Rückblickend ein wohl notwendiger Schritt, zu dem ihr selbst jedoch der Mut gefehlt hätte. Notwendig deshalb, da ihr Partner zuletzt immer häufiger gewalttätig gewesen war. Tadisa führt dieses Verhalten auf verschiedene Kriegstraumata ihres Ex-Verlobten zurück. Der aus Großbritannien stammende Mann hatte als Quasi-Söldner an bewaffneten Konflikten auf dem gesamten afrikanischen Kontinent teilgenommen und im Auftrag privater Firmen gezielt Menschen getötet. Im Laufe der Zeit zeigten sich bei ihm deshalb zunehmend Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Schließlich avancierte häusliche Gewalt immer mehr zum Ventil, um mit der psychischen Belastung fertigzuwerden. Diese ungesunde Entwicklung erkannte auch der Betroffene selbst und entschied deshalb, sich in Behandlung zu begeben und hierzu in seine britische Heimat zurückzukehren.

Seither besteht jedoch kein Kontakt mehr zwischen Tadisa und ihrem Ex-Partner. Folglich erhält sie auch keinerlei finanzielle oder sonstige Unterstützung, auf die sie und ihre beiden Kinder eigentlich dringend angewiesen wären. Selbst auf das ohnehin magere Kindergeld in Südafrika kann Tadisa nicht hoffen, da sie nicht über eine südafrikanische Staatsbürgerschaft verfügt. Mit Gelegenheitsjobs, meist als Reinigungskraft oder auch als Fotomodel, versucht sie sich und ihre kleine Familie finanziell über Wasser zu halten.

Hierbei lernt sie immer wieder neue Menschen kennen. Darunter gelegentlich auch Männer. Einer dieser Männer verliebte sich offenbar vor einiger Zeit in Tadisa und kontaktierte sie daraufhin regelmäßig. Er gestand ihr schließlich seine Liebe und erwartete nun anscheinend eine ebenso leidenschaftliche Gegenliebe, die jedoch ausblieb. Tadisa erklärte, kein Interesse an einer Beziehung zu haben, woraufhin der Besagte sie zunehmend unter Druck setzte. Er drohte damit, sich selbst zu verletzen, sofern Tadisa sich einer romantischen Beziehung mit ihm weiterhin verschließen würde. Ende März kam es dann tatsächlich zu einem missglückten Suizidversuch, der Tadisa sichtlich erschütterte. Der perfide Plan, ihr die Verantwortung für diese Tragödie einzureden, war aufgegangen.

Fast zeitgleich verstarb der Inhaber der Modelagentur, über welche Tadisa gelegentlich für Shootings gebucht worden war, an Covid-19. Sie war ausgesprochen niedergeschlagen, und zwar nicht nur deshalb, weil unklar war, inwieweit die Agentur überhaupt weiter bestehen würde, sondern auch weil sie den Inhaber persönlich gekannt hatte. Zwischen beiden hatte ein fast freundschaftliches Verhältnis bestanden.

Nur wenige Tage später meldete sich schließlich der neue Inhaber der Agentur persönlich per Textnachricht auf Tadisas privatem Handy. Der Inhalt der Nachricht offenbarte jedoch schnell, dass es sich hierbei nicht um Fürsorge, sondern um Machtmissbrauch handelte. Statt Tadisa über den Fortbestand der Agentur oder mögliche Jobangebote zu informieren, erklärte der Absender, beim Durchsehen der Modelkartei habe ihr Foto sein sexuelles Interesse geweckt. Er schlug daraufhin recht unzweideutig eine Affäre vor, die Tadisa jedoch ablehnte. Seither lebt sie im Ungewissen darüber, ob sie über die besagte Agentur jemals wieder Jobangebote erhalten wird.

Tadisas Geschichte ist schockierend aber nicht einmalig. Obwohl mir keine zweite Biografie bekannt ist, die sich bis ins Detail genauso ereignet hätte, lassen sich die einzelnen Episoden, die von häuslicher Gewalt, Stalking, psychischer Gewalt, Objektifizierung, Misogynie und Machtmissbrauch erzählen, tausendfach in Südafrika finden. Und nicht nur dort.

Mir kommt deshalb die Geschichte einer anderen afrikanischen Frau in den Sinn: Hagar[ii]. Auch sie war zunächst das Opfer patriarchaler Gesellschaftsstrukturen. In einer ebenfalls verzweifelten und scheinbar ausweglosen Situation hat sie jedoch auf einmal eine Gottesbegegnung, die zur entscheidenden Wende wird. Das drückt sich vor allem darin aus, wie Hagar Gott anspricht, nämlich als den „Gott, der mich sieht“[iii]. Gott ist also nicht nur ein Gott der Männer, auch wenn man das im Hinblick auf religiöse Eliten durchaus meinen könnte. Für mich persönlich hat sich deshalb während meiner Zeit in Südafrika immer mehr die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Vermännlichung Gottes ein theologiegeschichtlicher Irrweg ist.

Dieser Irrweg zeigt sich nicht zuletzt im frommen Sprachgebrauch. In Gebeten wird Gott mit weitem Abstand am häufigsten als „Vater“ bzw. „Herr“ angesprochen. Auch Bibelübersetzungen zeichnen ein ähnliches Bild: die meisten deutschen Bibeln[iv] übersetzen das Tetragrammaton, also den hebräischen Gottesnamen[v], mit „Herr“, was weder der Etymologie noch der Semantik dieses Namens entspricht. Die unkonventionellere „Verdeutschung“ Martin Bubers und Franz Rosenzweigs verzichtet zwar weitgehend auf den Adelstitel „Herr“, ersetzt diesen jedoch durch männliche Pronomen, welche dann wiederum in Kapitälchen erscheinen – ähnlich wie das Wort „Herr“ bei LU17, ELB, EU usw.

Wie unsinnig es jedoch ist, vom grammatikalischen Genus auf das soziale oder auch biologische Geschlecht zu schließen, zeigt sich beispielsweise wenn man Sprachen miteinander vergleicht. So ist etwa „die Sonne“ im Deutschen feminin, im Spanischen[vi] hingegen maskulin und dennoch ist die Sonne an sich lediglich ein Himmelskörper, der weder über ein biologisches noch über ein soziales Geschlecht verfügt.

Insofern ist auch die Verwendung überwiegend maskuliner Pronomen für Gott innerhalb der hebräischen Bibel nicht unbedingt ein Indiz für dessen Männlichkeit. Tatsächlich wird vor allem in älteren Texten, insbesondere der Tora[vii], das maskuline Pronomen הוא (hû’) häufig für Personen beiderlei Geschlechts verwendet. Dies lässt darauf schließen, dass in der Frühphase des Bibelhebräischen eine linguistische Differenzierung zwischen maskulin und feminin womöglich noch gar nicht vorlag.

Überdies sei daran erinnert, dass der Heilige Geist – allen ökumenischen Bekenntnissen zufolge eine der trinitarischen Hypostasen und damit Gott selbst – rein sprachlich betrachtet eigentlich eine Heilige Geistin ist. Immerhin ist das hebräische Substantiv רוח (rûa), welches u.a. mit „Geist“ übersetzt wird, feminin.

Während meiner intensiven Beschäftigung mit verschiedenen Einzelschicksalen von Frauen in Südafrika ist mir zunehmend bewusst geworden, wie sehr die sprachliche Vermännlichung Gottes auch mein eigenes Gottesbild prägt. Wenn ich mir jedoch vor Augen führe, wie sehr Gott gerade in und durch diese Frauen sichtbar wird, muss ich feststellen: dieses einseitig männliche Gottesbild passt nicht. Aber nicht nur das. Abgesehen davon, dass es unpassend ist, ist es auch potentiell gefährlich. Wenn in einem Land über 80% der Bevölkerung einer christlichen Religionsgemeinschaft angehören[viii] und die Gläubigen praktisch alle der unausgesprochenen Überzeugung sind, Gott sei männlich, kann diese Fehlannahme leicht als Legitimation patriarchaler Strukturen dienen, welche wiederum geschlechtsbezogene Gewalt begünstigen und bisweilen sogar erzeugen.

Meine Art und Weise, biblische Texte zu lesen, hat sich deshalb nachhaltig verändert. Auch die Art und Weise, sie vorzulesen. Gerade im gottesdienstlichen Rahmen kommt diese Veränderung regelmäßig zum Tragen: da die Aussprache des Gottesnamens im Hebräischen tabuisiert ist – einerseits aus Respekt,[ix] andererseits aufgrund der Tatsache, dass sich die ursprüngliche Aussprache nicht zweifelsfrei rekonstruieren lässt – muss an den zahlreichen Stellen insbesondere der Tora, die diesen Namen enthalten, beim Lesen ein gewisser Platzhalter eingefügt werden. Der wohl verbreitetste Platzhalter dieser Art ist das Wort אֲדֹנָי (’ădonāj), welches übersetzt in etwa „(mein) Herr“ bedeutet.

Im Hinblick auf das Problem der Vermännlichung Gottes erscheint mir dieses Substitut inzwischen als völlig unbrauchbar. Ich greife deshalb inzwischen zurück auf eine jüdische Tradition, die gewöhnlich vor allem außerhalb sakraler Kontexte zu finden ist: wo immer der Gottesname auftaucht, spricht man einfach von „dem Namen“ bzw. auf Hebräisch הַשֵּׁם (hašem). Diese Bezeichnung ist geschlechtsneutral und erlaubt es deshalb viel eher, hinter dem Gottesnamen mehr zu erahnen als einen alten, weißen Mann mit Bart, der die religiösen Vorstellungen so vieler Gläubigen und Ungläubigen prägt, um nicht zu sagen vergiftet.

Wird das nun aber die Situation von Frauen in Südafrika ändern, die geschlechtsbezogene Gewalt erleben? Mit Sicherheit nicht. Und es wäre auch von vornherein völlig vermessen gewesen, zu glauben, ein gerade einmal dreimonatiges Engagement vor Ort könnte dies leisten. Angesichts der über Jahrhunderte gewachsenen Strukturen, die geschlechtsbezogene Gewalt möglich machen, ist es unmöglich, einem solchen Anspruch gerecht zu werden. Was also ist der Anspruch?

Nicht umsonst begeben wir uns mit AMAKHOSIKAZI – Portraying Women in den Bereich, um nicht zu sagen das Königreich, der Kunst. Wie Wassily Kandinsky bereits vor über 100 Jahren erkannte, ist Kunst per se prophetischer Natur.[x] Ihr liegt also entweder ein Offenbarungsgeschehen zugrunde oder aber sie selbst ist dieses Offenbarungsgeschehen. So bemerkt denn auch Umberto Eco[xi], dass Kunst grundsätzlich etwas mit der Sichtbarmachung bzw. Erfahrbarkeit von Wirklichkeit zu tun hat. Wirklichkeit bedeutet in unserem Zusammenhang zweierlei: zum einen ist die grausame Realität der Frauen gemeint, die geschlechtsbezogene Gewalt erleben oder erlebt haben. Zum andern ist jedoch die Wahrheit gemeint, dass ebendiese Frauen gewollte, geliebte und von Gott persönlich geschaffene Individuen sind.

Diese Spannung zwischen Realität und Wahrheit ist praktisch nicht auszuhalten. Sie erfordert, so wie Kunst das grundsätzlich tut, Responsivität aber auch Responsibilität.[xii] Das Verhalten dieser Spannung gegenüber ist letztlich nur auf zwei unterschiedliche Arten möglich: entweder wird sie geleugnet oder überwunden. Diese Herausforderung zu formulieren, das ist, war und bleibt das Ziel von AMAKHOSIKAZI – Portraying Women.


[i] Name geändert

[ii] Gen 16

[iii] אֵל רֳאִי (V. 13)

[iv] z.B. LU17, MEB, ZB, BB, ELB, SLT, EU, NLB, MENG, DBU

[v] יהוה (JHWH)

[vi] sol

[vii] Gen-Dtn

[viii] http://www.globalreligiousfutures.org/countries/south-africa#/?affiliations_religion_id=11&affiliations_year=2010&restrictions_year=2015&region_name=All%20Countries

[ix] Vgl. Ex 20,7; Dtn 5,11

[x] Kandinsky, Wassily. 1952. Über das Geistige in der Kunst. 10. Aufl. Bern: Benteli. S. 26.

[xi] Eco, Umberto. 2010. On Beauty: A History of a Western Idea. London: MacLehose Press.

[xii] Mersch, Dieter. 2002. Ereignis und Aura: Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt: Suhrkamp. S. 53.