Südafrika ist in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnliches Land. Das zeigt sich bspw. daran, dass es hier nicht nur eine, sondern gleich drei Hauptstädte gibt: Kapstadt ist Sitz des Nationalparlaments, Bloemfontein des obersten Berufungsgerichts und in Pretoria befinden sich die Union Buildings, welche jährlich von Januar bis Juni als Regierungssitz dienen. Diese Dreiteilung stammt noch aus territorialen Überlegungen der Gründerväter der von 1910 bis 1961 existierenden Südafrikanischen Union.[i] Darüber hinaus spiegeln die drei Hauptstädte jedoch auch die in der Verfassung von 1996 festgeschriebene Gewaltenteilung wider. Eine Verfassung, um die nach der Apartheid intensiv gerungen wurde und von der Friedensnobelpreisträger Frederik Willem de Klerk kurz vor seinem Tod im November 2021 zurecht sagte, viele andere Nationen würden Südafrika um ebendiese beneiden.[ii]

Die Herausforderung, welche generell mit Verfassungen verbunden ist, besteht jedoch freilich in der Umsetzung derselben. Dass dies nicht automatisch funktioniert zeigt sich in Südafrika etwa am als State Capture bekannt gewordenen Korruptionsskandal rund um die indischstämmige Investorenfamilie Gupta sowie die Regierung von Ex-Präsident Zuma,[iii] in Deutschland hingegen z.B. an der legalen Prostitution, welche nicht zur gewünschten Eindämmung von Menschenhandel führt und seit Inkrafttreten des Prostituiertenschutzgesetzes (ProstSchG) 2017 die finanzielle Lage vieler Sexarbeiter:innen sogar noch erschwert hat.[iv] Ein zusätzliches Problem in Südafrika besteht allerdings darin, dass es neben den in der Verfassung festgelegten oder sich hieraus ergebenden Regelungen ein völlig eigenständiges Gesetz gibt, welches zwar nirgends verbindlich festgeschrieben ist oder nachgelesen werden könnte, das aber in den Köpfen vieler Menschen, insbesondere vieler Männer äußerst präsent ist.

Auf einen einfachen Nenner gebracht besagt dieses Gesetz in etwa folgendes: Alle Macht geht vom Manne aus; die Frau hat sich diesem zu beugen. In der Praxis bedeutet das bspw., dass wenn ein Mann aus der Volksgruppe der amaZulu eine Frau aus der Ethnie der Batswana heiratet, was durchaus häufiger vorkommt, die gemeinsamen Kinder gemäß den Traditionen der Zulu-Kultur erzogen werden. Dieses Beispiel ist allerdings insofern nicht repräsentativ, als es voraussetzt, dass beide Elternteile verheiratet und an der Erziehung der Kinder beteiligt sind. Die meisten südafrikanischen Kinder erleben etwas anderes. So ist davon auszugehen, dass knapp die Hälfte aller Mütter in Südafrika alleinerziehend ist.[v]

Nun ist es in verschiedenerlei Hinsicht eine schwierige Aufgabe, das eigene Kind bzw. die eigenen Kinder völlig allein großzuziehen. Die hiermit verbundenen, finanziellen Herausforderungen sind häufig nur dank Kindergeld und Unterhaltszahlungen zu bewältigen. Dennoch sieht die südafrikanische Realität meist anders aus. Einerseits beträgt die staatliche Unterstützung pro Kind und Monat umgerechnet gerade einmal knapp 27€,[vi] was selbst für Lebensmittel in der Regel nicht ausreichend ist, geschweige denn für Kleidung, Windeln, Arztbesuche, Medikamente, Schulgebühren, usw. Andererseits setzen Unterhaltszahlungen ein Gerichtsverfahren voraus, das in den allermeisten Fällen jedoch gar nicht erst eröffnet wird, da dies einem Bruch mit dem ungeschriebenen Gesetz des vorauseilenden Gehorsams gegenüber der vermeintlichen Allmacht des Mannes gleichkäme.

Diese Sichtweise haben mir gegenüber alle Frauen geäußert, mit denen ich mich über das Thema unterhalten habe. Alle Frauen bis auf eine, da diese nämlich momentan selbst um den Unterhalt für ihre einjährige Tochter kämpft. Dass hierzu nicht nur ein langer Atem gehört, sondern auch Mut, zeigt sich an der Tatsache, dass die Betroffene seit Prozesseröffnung regelmäßig von Fremden belästigt wird, die bspw. nachts ihr Haus mit Steinen bewerfen, was bei Wänden aus Blech freilich einen Lärm erzeugt, der Mutter und Kind regelmäßig den Schlaf raubt. Es ist kaum möglich nachzuweisen, dass der Kindsvater Drahtzieher dieses Psychoterrors ist, jedoch lassen Vergleiche mit ähnlichen Fällen, die mitunter gar im Femizid gipfeln,[vii] hieran wenig Zweifel. Dieses bedrohliche Szenario dürfte stark dazu beigetragen haben, dass einige südafrikanische Frauen mittlerweile die Meinung vertreten, man könne einem Mann durch den Verzicht auf eine Unterhaltsklage die eigene (finanzielle) Unabhängigkeit sowie Überlegenheit beweisen und ihm somit einen Denkzettel verpassen. Es fällt schwer, hierin irgendetwas anderes zu sehen als die völlige Kapitulation vor einem im höchsten Maße misogynen Patriarchat.

Das in Südafrika inzwischen offenkundig etablierte und sogar gesellschaftlich akzeptierte Verhalten vieler Männer, welches durchweg von Verantwortungslosigkeit geprägt ist, wird sich langfristig wohl nur dann ändern lassen, wenn mehr Frauen bereit sind, für ihr Recht und das ihrer Kinder zu kämpfen, was jedoch zugleich auch mehr Schutz für die Betroffenen voraussetzt. Auf die dringende Notwendigkeit, Opfer besser zu schützen und Unrecht zur Anzeige zu bringen, hat auch das Johannesburger Oberrabbinat in einem kürzlichen Webinar eindringlich hingewiesen.[viii] Anlass hierzu war der die jüdische Welt erschütternde Missbrauchsskandal um den israelischen Rabbiner und Kinderbuchautor Chaim Walder, welcher Ende Dezember Suizid beging und damit einer entsprechenden Verurteilung entging.[ix] Ziel des Webinars war es, aus für das Judentum normativen Quellen wie Talmud und Midrasch nachzuweisen, dass angesichts sexuellen Missbrauchs Strafanzeige zu erstatten nicht lediglich eine Option darstellt, sondern eine religiöse Pflicht. Hierbei geht es in erster Linie darum, Partei für besonders vulnerable Personen zu ergreifen und diese zu schützen. Dies lässt sich also auch auf viele der alleinerziehenden Mütter in Südafrika übertragen.

Ein zweiter, ebenso wichtiger Gedanke der rabbinischen Argumentation ist der, dass synagogale Gemeinden nicht über die notwendigen Ressourcen verfügen, die zur strafrechtlichen sowie psychologischen Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs notwendig sind. Darüber hinaus wäre Befangenheit bei einem rein internen Verfahren praktisch vorprogrammiert. Auch dies gilt selbstverständlich nicht nur innerhalb des jüdischen Kontexts, sondern weit darüber hinaus. Als Negativbeispiel hierfür kann etwa die Freie Volksmission in Krefeld gelten, in der Tätern sexuellen Missbrauchs aus der ehemaligen Colonia Dignidad ohne Verfahren, Verurteilung, Resozialisierung, Buße, Wiedergutmachung o.ä. freimütig die Absolution zugesprochen wird,[x] und zwar vor allem deshalb, weil man einander aufgrund desselben privatistisch-apokalyptischen Weltbilds[xi] zu einem gemeinsamen Kreis der Erleuchteten zählt.

Auch ich selbst habe im Rahmen meines ehrenamtlichen Engagements bei messianisch-jüdischen Jugendfreizeiten in Deutschland mehrere Jahre in Folge erlebt, dass Teilnehmerinnen sich gegenüber Mitarbeitenden als Opfer sexuellen Missbrauchs outeten. Besonders erschreckend war die Tatsache, dass in sämtlichen dieser Fälle der Täter ein Verwandter oder Bekannter der Familie war und diese von den Missbrauchsvorwürfen wusste, sie aber nicht zur Anzeige brachte. Stattdessen wurden die Taten bagatellisiert und von den Opfern größere Vergebungsbereitschaft erwartet. Unter einem frommen Mäntelchen verschwanden so die Verbrechen. Das Leid der Opfer blieb.

Ob es sich also um alleinerziehende Mütter in Südafrika handelt, die von den Erzeugern ihrer Kinder latent bzw. konkret bedroht werden, oder um Opfer sexuellen Missbrauchs in jüdischen, christlichen oder sonstigen Gemeinden in Deutschland: zu schweigen ist in keinem Fall eine Option. Im Gegenteil: Unrecht muss zur Anzeige gebracht werden, um das Recht der Betroffenen wiederherzustellen. Dieser Grundsatz lässt sich übrigens nicht nur aus Talmud und Midrasch ableiten, sondern auch aus dem Neuen Testament: „Wer nun weiß, Gutes zu tun, und tut’s nicht, dem ist’s Sünde.“ (Jak 4,17)


[i] Rosenberg, Matt. 2020. Why Does South Africa Have Three Capital Cities? [online] New York: Thought Co. Verfügbar unter: https://www.thoughtco.com/why-does-south-africa-have-three-capitals-4071907

[ii] SABC News. 2021. FW de Klerk’s Last Words to South Africans. 11. November. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=snmxTq9rBG0

[iii] Arun, Neil. 2019. State Capture: Zuma, the Guptas, and the Sale of South Africa. BBC News. 15. Juli. Verfügbar unter: https://www.bbc.com/news/world-africa-48980964

[iv] SWR Doku. 2022. Illegale Prostitution – das gefährliche Geschäft mit dem Sex. 9. Februar. 00:25:33-00:26:07. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=43phPZzoydE

[v] Statistics South Africa. 2018. Educational Article on Early Childhood Development in South Africa, 2016. Mbalo Brief (2): 1-12. S. 3. Verfügbar unter: http://www.statssa.gov.za/wp-content/uploads/2018/03/Mbalo-Brief-March-2018.pdf

[vi] South African Government. 2014. Child Support Grant [online]. Verfügbar unter: https://www.gov.za/services/child-care-social-benefits/child-support-grant

[vii] Vgl. Jewkes, Rachel & Abrahams, Naeemah. 2020. The Rule of Law as a Deterrent to Address the Scourge of Gender Based Violence and Femicide in South Africa [PowerPoint-Präsentation]. 28. August. Verfügbar unter: https://www.parliament.gov.za/storage/app/media/Pages/2020/august/28-08-2020_womens_parliament/docs/SAMRC_presentation_to_2020_Womens_Parliament_28_August_2020.pdf

[viii] Office of the Chief Rabbi. 2022. Sexual Abuse: Let’s Talk Openly. 17. Januar. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=dW2xHXs2RkM

[ix] Münch, Peter. 2021. Die dunkle Seite des Kinderbuchautors. Süddeutsche Zeitung. 28. Dezember. Verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/panorama/israel-chaim-walder-ultra-orthodox-1.5497320

[x] Fakt. 2017. ARD. 4. Juli. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=HgGHhK_xfQI

[xi] Trippler, Renée. 2021. Studie der Uni Münster in Corona-Krise: Zwischen Glaube und Ersatz-Religion. Westfälische Nachrichten. 13. Januar. Verfügbar unter: https://www.wn.de/muenster/zwischen-glaube-und-ersatz-religion-1087548